Vom Umgang mit psychischen Krankheiten

Jugendbuch | Ava Reed: Alles. Nichts. Und ganz viel dazwischen

Das letzte Schuljahr beginnt nach Sommerferien für Leni eigentlich ganz normal. Eigentlich. Denn schon bald ist gar nichts mehr so, wie Leni es kannte. Ost sie nicht mehr so, wie sie sich kannte. Von ANDREA WANNER

Alles nichts - 9783764170899 - 350Ava Reed erzählt eine Geschichte von Ängsten und Depression. Und sie erzählt, wie man am Ende erfährt, auch von eigenen Erfahrungen. Über das, was sie selbst nicht erlebt hat, hat sie sich kundig gemacht. Ob es reicht, das Spektrum an Gefühlen, die mit der Krankheit verbunden sind, auszuloten und ob die Geschichte diesem ernsten Thema wirklich gerecht wird, darüber wird man geteilter Meinung sein.

Manches gelingt. Leni versteht nicht, was mit ihr geschieht. Sie weiß nicht, warum sie plötzlich Angst überfällt. Natürlich, das Abi bedeutet Stress. Prüfungsangst kann eine da schon entwickeln. Aber ihre Ängste sind mehr. Sie sind bodenlose schwarze Löcher, in denen sie versinkt. Sie kann es niemandem schildern. Weder Emma, ihrer besten Freundin noch ihren Eltern. Sie versucht, es in Worte zu fassen. In ihrem neuen, ledergebundenen Tagebuch, einem letzten Relikt aus guten Tagen. Emma hat es ihr geschenkt und sie hat es so genannt, wie ihre Freundin: Emma.

Die Tagebucheintragungen hat Ava Reed handschriftlich verfasst und mit kleinen Zeichnungen verziert. Das wirkt in der Tat sehr authentisch und teenagermäßig.

Es kommt der Punkt, an dem Leni erkennt, dass sie Hilfe braucht. Professionelle Hilfe. Noch immer hat sie mit niemandem geredet. Es beginnt eine Odyssee durch Artpraxen, eine Fehldiagnose folgt der anderen. Es dauert, bis festgestellt wird, dass sie tatsächlich an Depressionen leidet. Und es dauert, bis sie in einer stationären Einrichtung für Jugendliche im Taunus landet.

Der schwächere Teil der Story beginnt dort. Der Aufenthalt und Lenis Gefühle, die Therapiesitzungen: all das wirkt konstruiert und ohne Leben. Warum, wird spätestens dann klar, als unvermutet eine Parallelhandlung eingeführt wird.

Plötzlich taucht Matti als zweiter Icherzähler auf, der an hereditärer sensorischer und autonomer Neuropathie Typ 4, einer seltenen Störung des Schmerz- und Temperaturgefühls leidet. Und so prallen die beiden aufeinander: die eine voller Angst und Schmerz, der andere ein in Watte gepackter Junge, der sich nach Angst und Schmerz sehnt. Und es beginnt ebenso vorhersehbar wie wenig überzeugend eine Liebegeschichte. Mit Flucht aus der Klinik und allem Drum und Dran.

Spätestens da ist der Kitschfaktor enorm hoch und überdeckt das eigentliche Thema auf ungute Weise. Okay, wer es als Lovestory lesen möchte, wird die ganz nett und berührend finden. Wer tatsächlich an Lenis Krankheit Interesse hat, wird ab diesem Moment das Geschehen eher skeptisch beobachten. Eine Geschichte halt. Und zu wird das Ganze zu gut verdaulichem Lesefutter mit Happy End.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Ava Reed: Alles. Nichts. Und ganz viel dazwischen
Berlin: Ueberreuter 2019
320 Seiten. 16,95 Euro
Jugendbuch ab 13 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die Wahrheit über das Lügen

Nächster Artikel

Von A wie Apfel bis Z wie zeichnen

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Ein It Girl mit Fehlern

Jugendbuch | Lena Dunham: Not That Kind of Girl Memoiren mit 28? Vielleicht ein bisschen früh. Vielleicht aber ein spannender Blick in das Leben einer jungen Frau, die 2012 für vier Emmys nominiert wurde und 2013 zwei Golden Globes erhielt. ANDREA WANNER war neugierig.

Wilde Jagd

Jugendbuch | Sandra Greaves: Draußen im Moor Gibt es das Böse? Gibt es Flüche, die eine Familie ruinieren können? Sandra Greaves gelingt es, gleich mit ihrem Debütroman nicht nur ein herbstdüsteres Dartmoor, sondern die ganze Wilde Jagd samt ihrem teuflischen Vorreiter auf höchst bedrohliche, weil überzeugende Weise lebendig werden zu lassen. Von MAGALI HEISSLER

Alles unter Kontrolle?

Jugendbuch | Jenny Jägerfeld: Der Schmerz, die Zukunft, meine Irrtümer und ich Erwachsenwerden ist eine Herausforderung und es ist oft nicht leicht, zu erkennen, wo die eigenen Probleme aufhören und die der Erwachsenen anfangen. Die 17jährige Maja sucht und findet ihren eigenen Weg. Von ANDREA WANNER

Die Kunst des Lesens

Jugendbuch | David Levithan: Letztendlich geht es nur um dich 2014 hat uns David Levithan mit ›Letztendlich sind wir dem Universum egal‹ eine außergewöhnliche Liebesgeschichte geschenkt. ANDREA WANNER war gespannt auf die Fortsetzung.

Zweite Chance

Jugendbuch | Alice Gabathuler: Hundert Lügen Opfer bösen Tuns haben ein Leben lang an den Folgen zu tragen. Geraten sie zum zweiten Mal in Bedrängnis, kann der psychische Stress übermächtig werden und eine Katastrophe auslösen. Oder den Weg zur Heilung öffnen. Alice Gabathuler schreibt darüber anerkennenswert differenziert. In einem Jugendkrimi – den MAGALI HEIẞLER gelesen hat