Sut erzählt von Eldin

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Wir leben in bewegten Zeiten, sagte Sut, da werde es schwierig, die Erinnerung daran zu bewahren, geschweige denn, das Geschehen getreu zu überliefern. Manche unter uns bestünden darauf, daß die Fotografie eine große Hilfe sei, eine sensationelle neue Technologie, sagen sie, die eifrig perfektioniert werde.

Sie konserviere, so werde versichert, sagte Sut, die Gegenwart in Bildern, doch das sei falsch, bewahre!, die Fotografie sei eine gefräßige Technologie. Der Mensch verstehe die Welt nicht und müsse argwöhnisch bleiben, absolut.

Nein, nicht einmal Teile der Episode, die er von Eldin erzählen werde, seien durch Fotografien zu ersetzen. Er lächelte. Die Männer liebten seine Stimme. Es war unmöglich, sich ihrer Faszination zu entziehen, Sut selbst ahnte das nur, und wer es ihm sagte, den lachte er aus.

Fotografien?, fragte Harmat.

Bilder, erklärte Bildoon.

Kameras seien Geräte, die Bilder, die man vor sich sehe, auf Papier werfen, erklärte Mahorner.

Er verstehe kein Wort, sagte Harmat.

Die Kleinbildkamera, führte Sut aus, werde im zwanzigsten Jahrhundert entwickelt, zur Zeit erlebe man die Anfänge der bildgebenden Medien, und gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts werde mit der digitalen Speicherung eine Flut von Bildinformationen ausgelöst, oberflächliche Abbildungen, die nichts erklärten. Mehr noch, sie würden keineswegs den Blick auf die Welt erweitern, im Gegenteil, jedes Foto verschlinge einen Teil der Welt unwiederbringlich.

Bis nichts mehr übrig sei?, fragte Pirelli.

So mag es kommen, sagte Mahorner.

Sut lachte. Eine Atmosphäre des Ausverkaufs breite sich aus, sagte er, Last Minute habe die Macht usurpiert, unersetzliche Reiseziele würden in den Metropolen verramscht, unter Oligarchen würden Adressen für eine letzte Zuflucht feilgeboten, seit neuestem die Hudson Yards in New York, eine innerstädtische Enklave für Milliardäre.

Er verstehe kein Wort, rief auch McAlister.

Du störst, tadelte Pirelli, Sut erzähle von Eldin.

McAlister schwieg.

Links neben Pirelli saß Touste, Sut hielt ihn konsequent heraus aus seinen Erzählungen, Touste war derjenige mit den blauen Augen, die so entsetzlich leer auf die Welt blickten, es war nicht mit anzusehen, niemand hielt diesem Blick stand, sogar Sut schauderte es – Touste war völlig aus der Zeit, ein hagerer Kerl, Federgewicht, der in ein anderes Jahrhundert gehörte, in das Jahrhundert der paralympischen Spiele, als die Mißgestalteten und die Krüppel gegen einander antraten, Hinterlassenschaften der jeweils gepriesensten Technologien, die noch ihre eigenen Opfer triumphalistisch vereinnahmen; in jenem Jahrhundert traten die Zerstörungen nicht nur am Menschen, sondern am Leben selbst zutage.

Sut erzählte davon, daß Eldin einen Pottwal erlegte, weit draußen im pazifischen Ozean, dramatisch, die Schaluppe mehrfach kurz davor zu kentern, wir kommen darauf zurück, oh!, und die Brigg in schwerem Gewässer, die Dünung meterhoch, daß der Wind gar nicht mehr ins Großsegel faßte und sie das Großmars setzen mußten, damit sie genug Schub bekam, um die nächste hohe See zu erklimmen, das lag einige Jahre zurück und wäre eine Erzählung weniger von Eldin als von dem dramatischen Kampf mit den Meeren.

Spannender wäre, er erzählte von Eldins Beziehung zu Annabelle, der Eldin in den Spelunken der Stadt begegnet war und die er in der Walstation erneut aufsuchte. Die Männer argwöhnten, daß die ›Boston‹ allein wegen Eldins Affaire die Walstation jedesmal anlief, doch niemand bestätigte es ihnen, so etwas schlägt sich nieder als ein Gerücht, das hinter vorgehaltener Hand weitererzählt wird.

Allein daß Eldin eine so stabile Beziehung pflegte, wunderte die Männer, denn jedesmal – das verfolgten sie mit eigenen Augen – nahm er Quartier bei Annabelle, und im Alltag, also während der zwei oder drei Tage des Aufenthalts, waren die beiden unzertrennlich, so wirkte es auf die Männer.

Hatte sie nicht einen Lebensgefährten in der Walstation? Und die wären nicht unzertrennlich? Wie konnte es geschehen, daß dieser Partner, sobald die ›Boston‹ anlegte, wie vom Erdboden verschluckt blieb? Die Ereignisse erschienen unentwirrbar in einander verwickelt und wahrten dennoch ein stabiles Gleichgewicht.

In Eldins Leben war dieser Aufenthalt ein fester Baustein, zwei- oder viermal jährlich, er machte sich deswegen keinen Kopf, und die Männer vermuteten, er habe bereits in der Stadt ein Verhältnis mit Annabelle gehabt, und sogar Scammon, davon waren sie überzeugt, sei darin verwickelt gewesen. Würde er sonst seine ›Boston‹ jedesmal vor der Walstation anlegen lassen? Nein, zweifelsfrei zu erfahren war nichts, aber so dachten die Männer.

Zwei, drei Tage, nie hielten sie sich länger auf. Eldin war wie verwandelt. Ob er das selbst wahrnahm? Vermutlich nicht, glaubte Sut, ein Leben richtet sich in Gewohnheiten ein.

Diese kurze Zeit schien Eldins Bedarf nach einer Frau zu stillen, ihn körperlich und seelisch zu balancieren. Das Leben behandelte ihn so pfleglich, als bette es ihn in eine Wiege und es gelte lediglich, sie in wohltuenden Rhythmen zu schaukeln.

Nein, Eldin fragte nicht, davon war Sut überzeugt, sondern vertraute sich dem Leben vorbehaltlos an, er hing an dieser Frau, sie war allseits respektiert, schon in der Stadt hatte sie sich robust noch gegen die aufdringlichsten Kerle behauptet. Sie war eine ansehnliche Person, trug ihr brünettes Haar zu einem Bauernzopf geflochten, eine begehrenswerte Frau, und wer wußte, wie gering die Anzahl der Frauen in der Stadt war, ahnte zweifellos, welche Stärke in Annabelles Persönlichkeit lag.

Weshalb sie an Eldin hing? War es die Stimme? Konnte eine Stimme erotisch anziehend sein? Wie sollte er das beurteilen? Er wußte lediglich, daß die Männer auf der ›Boston‹ zuckten, sofern Eldin nur seine Stimme erhob. Der schmächtige Körper, der schlaksige Gang beeindruckten niemanden. Sobald er aber sprach, fand sich alle Aufmerksamkeit augenblicklich auf ihn konzentriert.

Doch das sollte Annabelle schwach werden lassen? Eine Stimme? Sut konnte es nicht glauben. Das Leben gibt uns Rätsel auf, wir nehmen das selten zur Kenntnis.

| WOLF SENFF

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