Makellose Desaster

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Makellose Desaster

Die kapitalistische Ökonomie bricht ein, sagte Gramner, nicht heute, sagte er, nicht morgen, nicht gleich, sie läßt sich Zeit, sie genießt den eigenen Kollaps Schritt für Schritt, mit kühlem Kopf kalkuliert. Sie bereitet ihn strategisch vor, zu erwarten ist ein grandioses, spannendes, erschütterndes Schauspiel, in einzelnen Etappen präsentiert nach bestem Wissen und Gewissen, nichts überläßt sie dem Zufall.

Vergessen sind Zeit und Raum?, überlegte Pirelli und schmunzelte. Er genoß die erzwungene Fangpause. Nein, langweilig wurde ihm dabei nicht.

Woher weiß Gramner das?, fragte Harmat.

Er weiß es eben, sagte Bildoon.

Ruhe!, zischte Thimbleman.

In Kalifornien, sagte Gramner, richte sich die Speerspitze des Kapitalismus ein, dort fühlt sie sich heimisch als Avantgarde, wenn ihr so wollt.

Die Goldgräber, rief McAlister.

Das Silicon Valley der neuen Zeit, ergänzte Gramner,

Mahorner lachte. Es gibt keine neue Zeit, spottete er und fügte hinzu: Sei’s drum – wir Walfänger sind außen vor.

Der gute Mann irrt sich, murmelte der Zwilling.

Wie der Tropfen Wasser alle Teile des Ozeans, sagte Gramner, so enthält der Goldrausch alle Elemente des Kapitalismus. Seht die aus allen Winkeln des Planeten herbeiströmenden Menschen, seht ihre Gier, ihre Gewalttätigkeit, ihre Geringschätzung der Natur!

Ein Desaster, einen Kollaps gar stelle er sich schlimmer vor, wandte LaBelle zögerlich ein.

Wir erleben die behutsamen Signale, sagte Gramner, erinnert euch an den Untergang der Essex, aber auch an die Kriege, die um kolonialen Besitz geführt werden, denkt an die Vernichtung der spanischen Armada. Ebenso ist die Sklaverei Ausdruck skrupellosen Gewinnstrebens.

Zusammengenommen, sagte Pirelli, seien das weit mehr als behutsame Signale.

Beispiele aus vergangenen Jahrhunderten?, fragte Harmat.

Ich frage mich, ob wir in einer Welt, die so beschaffen ist, leben möchten, sagte Mahorner.

In dieser Lagune lasse sich aushalten, widersprach der Ausguck. Die Temperaturen seien angenehm, wegen der Verletzungen dauere die Fangpause noch an, in dieser Welt lebe er gern.

Mahorner war amüsiert und lachte, er nahm diese Jungen nicht ernst.

Wir sind in eins von der Stadt Frisco bis zu dieser Lagune der Baja California gesegelt, sagte Gramner, auf halber Strecke passierten wir Los Angeles, ein Städtchen, das in wenigen Jahrzehnten eine Million Einwohner haben wird und sich in seiner Wasserversorgung auf Flüsse des Hinterlands stützen muß.

Wasserversorgung, fragte Bildoon, wovon redet er?

Die Farmer nordwestlich der Stadt versorgten sich aus dem Owens River und wehrten sich erbittert gegen Ansprüche der Stadt. Sie sabotierten den Aquädukt, eine dreihundertachtzig Kilometer lange gigantische Wasserleitung, sie zündeten eine Bombe, sie okkupierten die Zentrale, sie leiteten das Wasser ab, es herrschte einige Jahre lang Bürgerkrieg. Erst 1913 setzte sich die Stadt durch und nutzt seitdem den Fluß, um den Großraum Los Angeles mit Wasser zu versorgen.

Der Kapitalismus zeigt Risse, sagte LaBelle.

Die Bevölkerung nahm weiter zu, und Mulholland, der führende Ingenieur, forcierte einige Jahre später ein ergänzendes Projekt, den St. Francis Stausee, um einen südlichen Flügelteil erweitert und einige Meter höher gebaut als ursprünglich vorgesehen, 1926 fertiggestellt, der felsige Untergrund war oberflächlich geprüft worden – diese Staumauer brach am 12. März 1928 ein, und eine vernichtende Flutwelle bahnte sich ihren Weg durch den Canyon und ein Flußbett in den Pazifik, sie forderte weit mehr als vierhundert Menschenleben.

Überreste des St. Francis Damms (1928)
Überreste des St. Francis-Damms (1928)

Der Kapitalismus zeigt Risse, sagte LaBelle.

Immer schon, sagte Sanctus, der Mensch nimmt es hin und fügt sich.

Er will es nicht anders, fragte Touste.

Sobald das Wehklagen verebbt, werden die Katastrophen stillschweigend ad acta gelegt, sagte Crockeye.

Positiv denken, sagte Pirelli, sei der Leitspruch der Neuzeit.

Mulholland stand wenige Stunden später zitternd, auf einen Stock gestützt an diesem Ort des Grauens. Die Staumauer, sagte Gramner, war wenige Minuten vor Mitternacht an ihren beiden Enden geborsten und mitgespült worden, um halb sechs erreichte die Flutwelle den Pazifik bei Ventura. Zentral im Canyon hatte ein riesiger Betonblock wie ein monströser Grabstein den Fluten standgehalten, er blieb als ein Fanal und hätte unter Denkmalschutz gestellt gehört, wurde jedoch in den neunziger Jahren gesprengt.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Weltmeister der Überraschungen

Nächster Artikel

Megacool

Weitere Artikel der Kategorie »TITEL-Textfeld«

Tambora

Textfeld | Wolf Senff: Tambora Nein, nicht ich, sagte der Ausguck, ich war nicht dabei. Thimbleman lachte. Du warst noch gar nicht auf der Welt, stimmt’s? Meine Eltern erzählten davon. Sie sagen, es sei schrecklich gewesen. Ich weiß, Gramner erwähnte den Ausbruch. Das Ende der Welt, sagt Gramner. Der Tambora befindet sich auf Sumbawa, einer Insel des Sundabogens östlich von Java. Weit, weit weg von unserer idyllischen Lagune, sagte der Ausguck Endlos weit. Und dennoch – ein nie dagewesener Ausbruch zu Beginn unseres Jahrhunderts, sagt er, folgenschwer wie der des Krakatau, als schon das Jahrhundert zu Ende ging, Jahrzehnte nach

Zu Gast

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Zu Gast

Zweihundertfünfzig Jahre, sagte Tilman, das sei wohl kaum vergleichbar, und deutete hinüber zum Gohliser Schlößchen, das, sagte er, als Landsitz des hiesigen Ratsbaumeisters Johann Caspar Richter entstanden sei und heute mit liebevoller Sorgfalt als ein kulturelles Zentrum der Stadt gepflegt werde.

Sie saßen zu viert auf der Terrasse, Farb trug Tee, Yin Zhen, auf, ihr Gast schwieg, was hatte ihn hierher verschlagen, er arbeitete sich an den vielerlei fremden Eindrücken ab, was waren das für seltsame Trinkgefäße, man hielt sie an einem zierlichen Griff, mit kräftiger Farbe waren Drachen aufgetragen, und das Getränk, was hatte es für einen lieblichen, zarten Geschmack, die Dinge weckten seine Sympathie.

Eine andere Welt, sagte er und lächelte milde: Wir kennen keine Schlösser, unsere Könige ruhen in reich ausgestatteten Gräbern.

Re

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Re

Was hatte ihn in diese Einöde verschlagen, in diese fremde Gesellschaft, wie seltsam, an einem Lagerfeuer zu sitzen, Walfänger zu sein behaupteten sie, aber ganz offensichtlich hatten sie nichts zu tun, tagsüber lungerten sie am Strand herum oder besserten die Takelage aus und pflegten den Schiffsrumpf, doch wirkliche Arbeit sähe anders aus.

»Farb«

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Farb

Du erinnerst dich an Farb?

Vom Toten Meer?

Es heißt, er sei Gramner dort begegnet, sie hätten mit Sergej aus Murmansk Backgammon gespielt.

Wer erzählt so etwas? Möglich wäre es, die zwei sind aus ähnlichem Holz, Farb ist ein schräger Vogel.

Die Wellen schlagen hoch, Anne.

So ist es.

Falsch gefragt

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Falsch gefragt

Die Oortsche Wolke, wie weit sie entfernt ist, oder Alpha Zentauri, wer will das schon wissen, die Forscher messen in Lichtjahren, das Licht, haben sie herausgefunden, verbreite sich mit unerhörter Geschwindigkeit.

Auch nachts?

Auch nachts.