Leise Aufschreie

Roman | Reinhard Kaiser-Mühlecker: Enteignung

Als der auf dem elterlichen Bauernhof im niederösterreichischen Eberstalzell aufgewachsene Reinhard Kaiser-Mühlecker vor elf Jahren mit dem schmalen Roman Der lange Gang über die Stationen debütierte, wirkte seine Prosa über das bäuerliche Leben in der Provinz wie ein Relikt aus längst vergangener Zeit. Längst ist der 36-jährige Schriftsteller kein Geheimtipp mehr. Von PETER MOHR

Seine Nachfolgewerke offenbarten ein herausragendes sprachliches Talent, und er erwies sich darüber hinaus als exzellenter (Natur)-Beobachter und subtiler Menschenkenner. Jetzt erschien sein neuer Roman Enteignung.

Kaiser-Mühlecker bewegt sich inhaltlich und formal immer deutlich abseits des literarischen Zeitgeistes, es klingt stets ein wenig melancholisch, wenn er sich im Spannungsfeld zwischen idyllisch anmutendem Landleben und unaufhaltsamen Veränderungen bewegt. Nicht anders verhält es sich in seinem jüngst erschienenen siebten Roman, in dessen Mittelpunkt ein Ich-Erzähler steht, der als Journalist einst für renommierte Zeitungen geschrieben hat, in der Welt viel herumgekommen ist, aber dann vor fünf Jahren in die ländliche Provinz zurück gekehrt ist – ins Haus seiner verstorbenen Tante.

Wenn er seinen Protagonisten grübeln lässt, bleiben die Leser wieder mit höchst ambivalenten Gefühlen und tief im Innern getroffen zurück.

Er lebt mehr oder weniger antriebs- und empathielos in den Tag hinein und arbeitet für ein anzeigenfinanziertes Lokalblatt. Schweinemast und Lokalpolitik prägen seinen ziemlich trostlosen Alltag. »Wie oft schon hatte ich darüber gestaunt, wie tief Menschen empfinden können; das ist eine Fähigkeit, die mir abging, was ich aber nie bedauert hatte«, bekennt der eigenbrötlerisch und extrem introvertiert gezeichnete Ich-Erzähler Jan zu Anfang der Handlung.

Irgendwann erwachen dann in ihm seltsame, kaum zu dechiffrierende Gefühle zur Lehrerin Ines und zur Bäuerin Hemma. Es ist kein »lupenreines« erotisches Begehren, was sich in Jan regt. Seine emotionalen Veränderungen deuten vielmehr daraufhin, dass er sein Alleinsein als Makel empfindet und latent »Besitzansprüche« anmeldet.

Reinhard Kaiser-Mühlecker beschreibt den Wandel in der ländlichen Provinz mit einer elegisch-melancholischen Hintergrundmelodie. Das Bauernpaar (Flor und Hemma) muss rund um die Uhr schuften. Expandieren oder aufgeben? Eine dritte Alternative scheint es nicht zu geben. Irgendwann droht ihnen die Enteignung. Auf einem Teil ihres Landes sollen Windräder installiert werden.

Jahrzehntealte Traditionen, Fixpunkte im Leben der Figuren stehen vor einem unaufhaltsamen Ende. Alles läuft hier unter dem Tempodiktat des vermeintlichen Fortschritts. Dem bäuerlichen Leben und dem seriösen Journalismus hat der Autor (gleichermaßen) diesen federleicht daher kommenden erzählerischen Abgesang gewidmet.

Reinhard Kaiser-Mühlecker, diese verwegene Mischung aus Adalbert Stifter und Peter Handke, ist ein Meister der leisen Aufschreie – einer, der nicht die Wucht der Posaune benötigt, sondern wie mit der Klarinette immer den feinen, den weichen Ton bevorzugt. Trotz seiner »Jugend« hat dieser Autor schon eine singuläre, unverwechselbare Stimme gefunden.

Und wenn er seinen Protagonisten grübeln lässt, bleiben die Leser wieder mit höchst ambivalenten Gefühlen und tief im Innern getroffen zurück: »Ich sah dem Wasser zu, wie es kam und ging und verspürte so etwas wie eine Sehnsucht nach etwas Ganzem in meinem Leben oder danach, dass mein Leben ein Ganzes sei. Nach einer Weile verflüchtigte sich diese Empfindung, und mir kam es nur folgerichtig vor, denn es gab nichts Ganzes.«

| PETER MOHR

Titelangaben
Reinhard Kaiser-Mühlecker: Enteignung
Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2019
222 Seiten, 21.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Peter Mohr über Reinhard Kaiser-Mühlecker in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Frühe Mobilität

Nächster Artikel

731 Days Gone

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Neue Challenge, neuer Chill

Roman | Juli Zeh: Über Menschen

Die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin Juli Zeh gehört zu den großen deutschen Gegenwartsautoren, die Stellung beziehen. Ihr nunmehr zehnter Roman bewegt sich so nah am Puls der Zeit wie kaum ein anderer. Gutmensch trifft auf AfD-Wähler, Weltuntergangsstimmung auf Werber-Slang, Stadtflucht auf Social Correctness. Es lässt sich nicht abstreiten: Über Menschen verfügt über alle Zutaten für einen gelungenen Corona-Bestseller. Von INGEBORG JAISER

Wenn die Landschaft Trauer trägt

Roman | Esther Kinsky: Hain »Jeden Morgen wache ich in einer Fremde auf«, heißt es in Esther Kinskys viertem Roman Hain, und das ist nicht nur geografisch gemeint. Eine Frau begibt sich an drei unterschiedlichen Orten in Italien auf Spurensuche. Als »Geländeroman« hat die 61-jährige Autorin und Übersetzerin ihr Werk bezeichnet. Man könnte es auch Landschaftsroman nennen, doch Gelände klingt wilder, ungezügelter – und so ähnlich geriert sich auch der Roman, der uns durch unwegsame Territorien führt. Von PETER MOHR

Zwischen Manie und Melancholie

Roman | Leon Engler: Botanik des Wahnsinns

»Meine Familie hat ein Talent für Verrücktheit«, konstatiert der junge Mann, der sein Leben seziert und mal mit leichter Ironie, mal betont wissenschaftlich analysiert, systematisiert, als sei es eine Botanik des Wahnsinns. Doch wie kann man den familiären Prägungen entkommen, fragt Leon Engler in seinem Debütroman, der auf fantasievolle Weise Fiktion mit Faktenwissen vermengt. Von INGEBORG JAISER

Er liebt mich, sie liebt mich nicht und alles ist doch einerlei

Roman | Yasmina Reza: Glücklich die Glücklichen Die französische Schauspielerin und Autorin Yasmina Reza bringt in ihren Theaterstücken Dreimal Leben (2000) oder im Gott des Gemetzels (2006) Szenen aus dem scheinbar so harmlosen Alltag auf die Bühne. Als ganz großes »Theater«. Auch in ihrem neuen Roman Glücklich die Glücklichen beleuchtet sie wieder dieses alltägliche Nebenbei in Begegnungen, Beziehungen. Ob auch diesmal wieder aus dem Einerlei von Paaren, ihren Diskussionen, ihrem antrainierten Schweigen, ihrer Flucht in Affären Mord und Totschlag entsteht, fragt HUBERT HOLZMANN.

Terroristenjagd ohne Terroristen

Roman | Franz Dobler: Ein Schuss ins Blaue Zum dritten Mal nach Ein Bulle im Zug (2014) und Ein Schlag ins Gesicht (2016) schickt Franz Dobler seinen Ex-Bullen Robert Fallner auf Verbrecherjagd. Diesmal winkt dem in der Sicherheitsfirma seines Bruders Hans Tätigem sogar eine nicht unbeträchtliche Summe, sollte es ihm und seinen Kollegen gelingen, einen islamistischen Extremisten dingfest zu machen, bevor der größeren Schaden anrichten kann. Aber warum verhält sich dieser Iraker so gar nicht wie ein Terrorist, während sich die Atmosphäre um ihn und seine Beobachter herum von Tag zu Tag mehr mit Fremdenfeindlichkeit auflädt? Von DIETMAR JACOBSEN