Von Sut und Chopin

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Von Sut und Chopin

Der Ausguck streckte sich im Sand und räkelte sich. Er hatte lange herumgeturnt, er war erschöpft, Salto, Handstandüberschlag, nichts Neues für ihn, doch hier, in der Ojo de Liebre, war es unvergleichlich.

Thimbleman stand auf und kam Schritt für Schritt aus dem Wasser.

Schwimmen, was für ein Unfug, dachte der Ausguck. Unmöglich. Wer ginge denn freiwillig ins Wasser.

Was ist eigentlich mit Sut?, fragte er.

Wieso?, fragte Thimbleman. Was soll mit ihm sein?

Du findest ihn nicht sonderbar?

Er paßt in die Mannschaft, er sorgt für Abwechslung und verträgt sich mit allen. Er traut sich sogar, daß er Eldin übers Maul fährt, und der respektiert ihn trotzdem.

Er stammt aus Europa.

Kaum einer von uns ist nicht über den Atlantik eingewandert, oder?

In der Stadt gibt es eine Menge Chinesen. Auch die Schwarzen sind von weither.

Sklaven und ihre Nachkommen. Aber erzähl, was wundert dich an Sut?

Er sei ein Künstler, heißt es. Ein Intellektueller.

Was wäre daran verkehrt, Kerl? Sei froh, daß auf der ›Boston‹ nicht nur Holzköpfe angeheuert haben.

Er sei aus Frankreich, wird erzählt, habe dort in Künstlerkreisen verkehrt und einige Jahre lang eine Affaire mit einer leidenschaftlichen Dame gehabt, George Sand, in ihrer Begleitung habe er Konzerte besucht, feine Gesellschaft, wird erzählt.

Du weißt Bescheid, Ausguck.

Man ist neugierig.

Wenn nichts zu tun ist, bleibt viel Zeit zum Reden.

Exakt, Thimbleman. Komponisten wie Franz Liszt und Frederic Chopin und der Maler Eugene Delacroix, einer wie der andere eine Berühmtheit in Paris. Sut schwärme noch immer von einem Konzert Chopins im April 1841 im Konzertsaal der Firma Pleyel in Paris, sagte der Ausguck, seit Jahren Chopins erstem öffentlichen Konzert, Chopin habe lange dazu überredet werden müssen, er sei sehr zurückhaltend mit öffentlichen Auftritten gewesen, und drei Viertel der Karten seien verkauft gewesen, bevor das Konzert überhaupt angekündigt war, er zog es vor, in privaten Salons aufzutreten, das öffentliche Gewese stieß ihn ab.

Ein unvergeßliches Erlebnis, sagt Sut und erinnert sich an jedes Detail. Zuletzt, äußere sich Chopin in einem Gespräch mit Liszt, zuallerletzt komme die Einfachheit. Nachdem alle Schwierigkeiten ausgeschöpft seien, eine immense Menge an Noten gespielt, sage er, sei es die Einfachheit, die mit ihrem Charme hervorkomme wie ein letztes Siegel der Kunst. Wer dies sofort erreichen wolle, werde niemals Erfolg haben; man könne nicht mit dem Ende beginnen. Man müsse viel studiert haben, sage Chopin, sogar ungeheuer viel, um dieses Ziel zu erreichen; das sei keine leichte Sache.

Franz Liszt habe, sagt Sut, Chopins feines Auftreten bewundert und seine männliche Reinheit, die sich eindrucksvoll in ihrer spontanen Verachtung für den oberflächlichen Drang nach Spaß und Genuß beweise.

So weit Chopin, Thimbleman lächelte, ein andermal mehr. Was wäre spannender, sagte er, als sich in dieser abgelegenen mexikanischen Lagune über europäische Musik der Klassik zu unterhalten?

Romantik inbegriffen, präzisierte der Ausguck. Aber du hast recht. Das liegt einige Jahre zurück. Chinesische Landschaftsmalerei, sagt Sut, und die europäische klassische Musik seien die bedeutendsten Errungenschaften der menschlichen Zivilisation.

Was hatte Sut überhaupt in die Neue Welt verschlagen? In Paris wird es ihm gutgegangen sein.

Das wisse niemand, sagte der Ausguck, Sut spreche nicht darüber. Chopin verstarb vor sieben Jahren nahezu mittellos in Paris. Das mag der Anlaß für Sut gewesen sein, sein Leben neu aufzustellen.

Bereue er das?

Er genießt es, unter Menschen zu sein. Da ist er auf der ›Boston‹ gut aufgehoben. Die Männer lieben ihn, die Goldgräber in den Kneipen der Barbary Row schätzen ihn sehr. Ihm genüge, sagt er, die Erinnerung an seine Jahre in Europa, er trage jene Musik im Herzen, sagt er.

Er ruht in sich.

Wer in sich ruht, dem passen sich die wechselnden Umstände an.

Ich gehe schwimmen. Thimbleman stand auf und lief zum Wasser.

Der Ausguck streckte sich lang in den heißen Sand. Subtropen, hatte Gramner gesagt, und wärmer noch als Kalifornien. Da hatte Gramner wohl recht, sagte sich der Ausguck, in der Ojo de Liebre herrschten deutlich angenehmere Temperaturen als in der Stadt.

Er stützte sich auf, hielt Ausschau nach Thimbleman und sah dessen Kopf ein gutes Stück weit draußen. Auch Thimbleman fand Gefallen an der Lagune, sie hatten freie Tage, solange nicht alle Mann einsatzfähig waren.

Ein Stück Chile, ein Abschnitt der Küste Südafrikas, südwestliches Australien und selbstverständlich das Mittelmeer hatten mediterranes Klima, Kostbarkeiten, sehr sorgsam auf den Planeten getupft, so sah es Gramner.

Der Ausguck war höchst zufrieden in der Ojo de Liebre. Kein mediterranes Klima, doch es tat ihm gut. So ungefähr, überlegte er, dürfe man sich das Glück vorstellen.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Not the great Hippie-Swindle

Nächster Artikel

»Hollywood war nicht einmal in unserem Rückspiegel«

Weitere Artikel der Kategorie »TITEL-Textfeld«

Mein Steinzeitschaber

TITEL-Textfeld | Peter Engel: Mein Steinzeitschaber Mit drei Fingern faßt er sich gut, läßt sich genau führen und trennt das Fleisch von der Sehne,

Agonie

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Agonie Der Planet leidet Todesqualen. Du übertreibst, Susanne. Sagt Gramner. Gramner lebt zwei Jahrhunderte vor unserer Zeit. Er kann das nicht wissen. Sein Gespür ist untrüglich.

Gesundheit

Textfeld | Wolf Senff: Gesundheit Die Ärzte jener Moderne, sagt Gramner, würden invasiv operieren, die Schäden, die sie anrichteten, seien beträchtlich. Der Ausguck rieb sich die Augen. Er verstehe nicht ein einziges Wort, sagte er. Gramner erzähle Schauergeschichten aus der Moderne? Auch in jener Moderne werde das vermutlich kaum einer zur Kenntnis nehmen. Doch Gramner solle sich in acht nehmen. Kassandra, sagt man, sei erdolcht worden.

Spaghetti

TITEL-Textfeld | Slata Kozakova: Spaghetti Wir sitzen am gedeckten Tisch, Mutter stellt die Teller mit Spaghetti hin, darüber geriebener Parmesan, Tomatenpasta und Oliven. Die Pasta ist selbst gemacht und schmeckt, anders als die in Dosen, nach Zuhause. Ich ignoriere das Gebet, und wir beginnen zu essen. Ich schiebe die Oliven vorsichtig an den Tellerrand, ich hasste schon immer Oliven, egal ob schwarze oder grüne, aber immer liegen welche im Teller, weil das so sein muss, Spaghetti mit Oliven, heißt es doch. Verstohlen gucke ich: Sie essen langsam und kauen umständlich mit ernsten Gesichtern, wie bei der Erfüllung einer wichtigen Aufgabe,

Ausschnitt

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ausschnitt

Ein Stück nach rechts liegt der Pferdemarkt, nein, von meinem Tisch aus sehe ich ihn nicht, es ist selbstverständlich kein Pferdemarkt, auch das Oktober ist nicht im Ausschnitt, mit Adam war ich einmal im Oktober, damals hieß es noch Oktober, sie boten ein reichhaltiges Buffett an.