/

Wir alle sind Fiktion

Kulturbuch | Doris Dörrie: Leben, schreiben, atmen

Schreiben kann ein hochkonzentrierter und selbstvergessener Zustand sein, wenn man es schafft, die innere Zensur zu überlisten. Doris Dörrie scheint eine Meisterin darin zu sein. Ihr neuestes Buch ›Leben, schreiben, atmen‹ klingt wie ein Mantra und verheißt doch eine spannende Schule der Wahrnehmung. Von INGEBORG JAISER

Dörrie - Leben Schreiben AtmenWir kennen sie vor allem als Regisseurin und Drehbuchautorin liebevoll ironischer Filme, angefangen vom frühen Publikumserfolg ›Männer‹ bis hin zu ›Kirschblüten und Dämonen‹. Doch Doris Dörrie hat auch gut zwei Dutzend Bücher verfasst: Kinderbücher, Romane, Erzählungen, mit meist hintergründigem Witz und Verve, durchdrungen von einer Lebenslust, die auch tragische Momente nicht ausklammert. Seit über 20 Jahren unterrichtet sie Creative Writing an der Münchner Filmhochschule und gibt Workshops auf der ganzen Welt. »Ich kann innerhalb von 10 Minuten jedem Menschen das Schreiben beibringen,« verkündet sie selbstbewusst und zuversichtlich.

Welche einfachen Werkzeuge ihre Trickkiste bereithält, verrät uns Doris Dörrie in ihrem neuesten Buch ›Leben, schreiben, atmen‹. Laut Untertitel ›Eine Einladung zum Schreiben‹, aber eben keine nüchterne Anleitung aus der Ratgeberecke, kein staubtrockenes Lehrbuch im Stile von »Wie werde ich ein erfolgreicher Schriftsteller«. Eher eine inspirierende gemeinsame Reise in die Tiefen der Erinnerung und die Kraft des wilden Assoziierens. Die Festplatte unseres eigenen Gehirns verfügt über einen unglaublichen Reichtum, auf den wir immer Zugriff haben. Nur Mut!

Lass dich treiben

Trotz aller Freiheiten schwört Doris Dörrie auf einige Regel. Hilfreich ist es, von Hand zu schreiben, mindestens 10 Minuten am Stück, ohne Unterbrechung, ohne innere Zensur, ohne sich von Scham, Angst, Rechtschreibung oder Grammatik ausbremsen zu lassen. »Lass dich treiben«, lautet der Rat, denn »mit einem Mal tauchen interessante Details auf, Erinnerungen, die verschüttet schienen, phantastische Bilder, seltsame und großartige Geschichten.«

Um auch noch die letzten Skeptiker, Antriebsschwachen und Mutlosen auf Trab zu bringen, legt Doris Dörrie einfach selbst los und stellt jedem Kapitel eine Szene, eine Anekdote aus ihrem eigenen Leben voran. Und diese witzigen, traurigen, nachdenklichen, ehrlichen, einzigartigen Geschichten wirken dermaßen ansteckend, dass der eigene Gedanken- und Ideenfluss kaum mehr zu bremsen ist.

»Wir alle sind Geschichtenerzähler,« behauptet Doris Dörrie. Und: »Wir alle sind Fiktion, aber das glauben wir nicht, weil wir uns mitten in ihr befinden, wie in einem Fortsetzungsroman«. Schon die Kapitelüberschriften dieses Buches haben das Zeug zum Stichwortgeber für die eigene Story: von »Drogen und anderen Substanzen« bis zu »Super Chicken«, von »Heimatort« über »Hinterteile« bis zu »Jemand anders sein«.

Ganz nebenbei, ohne ursprüngliche Absicht, hat Doris Dörrie so häppchenweise ihre eigene Autobiographie preisgegeben. Und die ist durchaus auch von Phasen des Zweifels und der Trauer durchsetzt.

Unwillkürliche Erinnerung

Ihre beherzte Offenheit animiert, im eigenen Leben zu graben und ungeahnte Schätze zu bergen: die Leibspeise als Kind, ein schwerer Verlust (»Heul dir die Augen aus dem Kopf beim Schreiben. Es bringt dich nicht um.«), ein wiedergefundener Freund. Setzt erst einmal jener rauschhafte Zustand ein, den Marcel Proust einst »mémoire involontaire« genannt hat, wird das Erzählen zum puren Glück.

Doris Dörries Einladung zum Schreiben ist eine anregende, lebendige, Lust und Mut machende, unterhaltsame und befreiende Schule der Wahrnehmung. Oder, um mit einem ihrer Filme zu sprechen: Erleuchtung garantiert!

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Doris Dörrie: Leben, schreiben, atmen
Eine Einladung zum Schreiben
Zürich: Diogenes, 2019
271 Seiten, 18,00 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Fette Hits von coolen Broten

Nächster Artikel

Sadness With A Dash Of Beats: An Interview With Emika

Weitere Artikel der Kategorie »Kulturbuch«

Take the Challenge!

Kulturbuch | Attila Hildmann: Vegan for you(th) Attila Hildmann hat eine Mission: Unsterblichkeit. Tatsächlich unvergessen wird er sein, als der Mann, der der veganen Community ein Gesicht gab, und was für eines: Fit und frisch, stark, glücklich – und irre jung. Nachdem in bisherigen »Challenges« schon der Trübsinnigkeit (›Yegan for fun‹, 2011) und der Moppeligkeit (›Vegan for fit‹, 2012) der Kampf angesagt war, widmet sich Hildmann nun mit ›Vegan for you(th)‹ tatsächlich dem Endgegner. Von SUSAN GAMPER

Fressführer 2015

Kulturbuch | Deutschland Guide Michelin / Gault Millau Österreich / A la Carte 2015
Alle Jahre im Spätherbst kommen die aktuellen Restaurantführer in die Buchhandlungen, und es werden, neben den »Klassikern« Michelin und Gault Millau, immer mehr. Dabei geraten sie in eine Zwickmühle: Entweder sie ähneln sich bis zur Ununterscheidbarkeit, oder sie bemühen den subjektiven Geschmack – dann freilich gibt es wenig Ursache, ihnen zu vertrauen. Denn einen eigenen Geschmack hat auch der Benutzer, findet THOMAS ROTHSCHILD

Es tickt die Zeit, das Jahr dreht sich im Kreise

Menschen | Literaturkalender 2018 Gleich nach den Sommerferien tauchen sie auf: die ersten Lebkuchen im Supermarkt, in den Buchhandlungen die Kalender für das nächste Jahr. Zu den lukullischen Vorboten folgen literarische. Wer sich noch nicht durch seinen Lieblingskalender geblättert hat, findet hier zur Einstimmung einen Ausblick auf alte Bekannte und neue Entdeckungen. Von INGEBORG JAISER

Herr Kant blickt streng auf Österreich

Kulturbuch | Beatrix Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl

Das Buch von Beatrix Müller-Kampel lesen, heißt ein Schlachtfeld betreten. Wir wohnen der Hinrichtung von Hanswurst, Bernardon und schließlich des schon weitgehend gezähmten Kasperle bei. Von JÖRG DREWS

Bilder aus einem fernen Land

Kulturbuch | Graetz / Teubert: Stadt, Land, Leben. Fotografien aus der DDR 1967-1992 »Land der Knipser« hat man die DDR manchmal genannt. Das ist richtig, wenn man die Verbreitung des Hobbys Fotografie anschaut. Ganz anders als in der BRD – die ja nicht weniger ein »Land der Knipser« war – scheint sich aber sogar die vergangene ostdeutsche Realität überhaupt erst aus privaten Schnappschüssen zu erschließen, fernab von langweiligen, inszenierten offiziellen Aufnahmen. Jürgen Graetz, dessen Bildern Stadt, Land, Leben gewidmet ist, ist ein besonderer Fall, ein offizieller Fotograf auf Abwegen. Von PETER BLASTENBREI