//

Corona

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Corona

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Corona

Ihr merkt davon nichts, bei euch kommt die Seuche nicht an? Unmöglich. Du nimmst mich auf den Arm, Krähe. Tröpfcheninfektion, Lungenentzündung, und erzähl mir nicht, ihr hättet keine Lunge. Na also.

Gut. Meinetwegen. In eurer Flughöhe ist das Virus nicht nachgewiesen, das laß ich gelten, und ihr haltet euch nicht in geschlossenen Räumen auf. Doch man sieht euch oft auf dem Boden, ihr hüpft unbeholfen über Rasenflächen, und könnte das, verglichen mit der Eleganz eures Fluges, bereits für ein Symptom der Erkrankung halten, ihr solltet euch testen lassen.

Ich erinnere mich, daß ihr regelrechte Schlafbäume hattet; wenn ich morgens zur Arbeit unterwegs war, es dämmerte noch, waren einzelne Bäume am Straßenrand dicht bevölkert von Krähen, reglos noch im Schlaf, selten flatterte eine aufgeschreckt in die Höhe und kehrte zurück, aufzuwachen und loszufliegen ist wohl eins bei euch, und wenn endgültig der Tag anbricht, fliegt ihr in einer mächtigen Wolke davon.

Gehören eure Schlafbäume der Vergangenheit an? Ich habe lange keine gesehen, nein, ich werde das nicht der Seuche anlasten, Krähe, es ist wohl doch eher unwahrscheinlich, daß ihr euch gegenseitig ansteckt oder daß ihr überhaupt infiziert werdet, ihr habt ein dichtes Federkleid und berührt einander selten. Aber was immer die Ursache sein mag, Krähe, ihr habt euch verändert.

Seid ihr zahlenmäßig reduziert? Man liest, daß Insekten aussterben und Vögel weniger Nahrung finden und die Vogelpopulationen generell sich wandeln, man liest auch, das hänge mit der industrialisierten Landwirtschaft zusammen, den massiven Monokulturen, und daß die Vögel sich deshalb in die Städte flüchten, doch ich weiß das nicht, Krähe, verstehst du, ich kann das schlecht beurteilen, aber ich wüßte das gern, du bist ein kluger Vogel, Krähe, hier fällt einem etwas auf, man zählt eins und eins zusammen, verstehst du, die Abläufe sind besorgniserregend.

Letztlich fällt es nicht ins Gewicht, ob diese Seuche sich bei euch ausbreitet, es genügt schon, daß sie unter den Menschen wütet, jeder flüchtet, der Mensch sucht sich in Sicherheit zu bringen, das ist nicht anders als bei euch, viel wird geredet, doch niemand gibt verläßlich Auskunft, außer daß man die Anzahl der Todesfälle und der Infizierungen statistisch aufbereitet, Tabellen zeigt und die Abläufe zur Kenntnis nimmt.

Nein, niemand weiß, woher die Seuche stammt und wie sie ausgehen wird, doch es sieht nicht gut aus, die Implikationen sind erschreckend, verstehst du, das ist nicht anders als bei euch, die Natur scheint die Spielregeln neu definieren zu wollen, und manche Spezies ist in ihrer Existenz bedroht.

Du glaubst, man kann da nichts tun, rein gar nichts? Schon möglich. Ich habe euch immer bewundert, Krähe, daß ihr euch so reibungslos in die natürlichen Prozesse einfügt, verstehst du, man hat den Eindruck, es gibt weder Unglücksfälle noch Krankheiten, ihr haltet eine stabile Balance in den Abläufen, ohne sie verändern zu wollen.

Das, meinst du, fehle dem Menschen? Er habe die Natur verbessern wollen, anstatt ihr gastfreundliches Angebot zu nutzen? Anstatt sich damit zufriedenzugeben? Du magst recht haben, wir kennen dich als eines der klügeren unter allen Geschöpfen.

Nein, ich sage dazu lieber nichts. Man verbrennt sich die Finger, verstehst du, das Thema ist äußerst umstritten, der Mensch neigt zu aggressiven und unkontrollierten Reaktionen, und das ist ein Problem.

Du gibst mir recht, Krähe, nicht wahr?

Man solle Mitleid haben, sagst du, mit diesem so widersprüchlichen Geschöpf, es wisse weder ein noch aus, teils wolle sich der Mensch die Natur als eine dienstleistende Kraft gefügig machen, teils erkenne er den größenwahnsinnigen eigenen Anspruch, zeige sich einsichtig und plädiere dafür, sich zu integrieren. Stimmt, Krähe, da sitzt er in der Klemme, zwischen den Stühlen, und findet nicht heraus.

Die Seuche, sagst du, sei bereits die Reaktion der gepeinigten Natur, die nicht länger bereit sei, den Eigennutz des Menschen und sein rücksichtsloses Agieren hinzunehmen?

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

»Wahrer Schatz an maritimer Kunst«

Nächster Artikel

Götterdämmerung

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Blutrausch

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Blutrausch

Die zivilisierte Welt sei auf dem Rückzug, ultimativ, sagte Annika und schenkte Tee ein, Yhin Zhen, sie hatte das Drachenservice aufgedeckt, die Temperaturen waren mild.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Ob es nicht stets dasselbe sei, fragte er, die einen würden in Luxus oder wenigstens ohne finanzielle Sorgen leben, die anderen, bei weitem die Mehrheit, seien barbarischen Zuständen ausgeliefert, es würden Kriege geführt, zu Millionen irrten die Menschen auf dem Planeten umher, und wer es sich leisten könne, suche in friedfertigen Regionen unterzukommen.

Er nahm einen Löffel Schlagsahne und strich sie sorgfältig auf seiner Pflaumenschnitte glatt.

Spielregeln

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Spielregeln

Was denn nun, fragte Wette.

Er wisse von nichts, sagte Farb.

Ob er austeilen solle, fragte Tilman.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Sahne und nahm sich einen Marmorkeks; seitdem die Preise für Vanille in unerschwingliche Höhen gestiegen waren, waren die Vanillekipferl, die er früher so gern gegessen hatte, nicht länger im Handel erhältlich.

Sprache

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Sprache

Du mußt ganz vorn anfangen, sofern du die Dinge sortieren möchtest, verstehst du, im Anfang war das Wort.

Wo ist das Problem.

Die Leute haben ihre Bodenhaftung verloren, sie sind hysterisch, doch so möchte man sie haben, leichtgewichtig, daß man ihnen allerlei püriertes Durcheinander andrehen kann, sie haben eine langjährig gezüchtete Kundenmentalität, man kann sie locker für dumm verkaufen, aber ab und zu doch auch wieder nicht, der Widerstandsgeist ist zäh, sie lassen sich glücklicherweise nicht über einen Kamm scheren.

Verstehe das, wer will, Farb.

Sie können störrisch sein wie Esel, ohne mich, sich auf die Hinterbeine stellen.

Vorsorge

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Vorsorge

Weshalb niemand über Vorsorge redet, Tilman, das verstehe, wer will.

Die aktuelle Debatte liegt falsch?

Sie reden darüber, die Extreme auszubremsen, sie wollen den CO2-Ausstoß begrenzen und streiten über Zahlen.

Das wäre keine Vorsorge?

Nein, das ist der Versuch, eine rasante Entwicklung zu entschleunigen, ohne die zugrundeliegenden irrigen Abläufe anzutasten.

Abstiegskampf

Lite Ratur | Wolf Senff: Abstiegskampf Krähe, lass mich erzählen. Nein, Fußballfan bin ich nicht. Sei mal still. Dass ich samstagsnachmittags Bundesligakonferenz höre, ist mir zur Gewohnheit geworden; so sehr, dass ich’s an spielfreien Wochenenden vermisse, wie man eben eine vertraute Gewohnheit vermisst. Zwei-, dreimal in den letzten Jahren war ich im Stadion, bei St. Pauli, klar, zum HSV, nein, dazu lieber kein Wort. Von WOLF SENFF