Alter

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Alter

Wie alt der Planet ist, möchtest du wissen, fragt Krähe, Krähe zählt zu den klügeren unter den Lebewesen.

Gut gefragt, sagt sie, doch da gehen die Meinungen auseinander, er sei mit einem Urknall entstanden, sagen die einen, es habe ihn immer schon gegeben, die anderen. Exakt, sagt Krähe und ist amüsiert, doch der Mensch wisse das nicht, und besonders lächerlich sei, die Jahre zählen zu wollen, Erbsenzählerei, sagt sie, betrieben von denjenigen, die die eigene Gattung mit Lorbeer schmücken und sich als ›Homo Sapiens‹ rühmen, welch ein Mißbrauch von Sprache.

Verstört schwingt sie sich einige Äste höher.

Nein, sagt sie, undenkbar, das Alter nach Jahren zu zählen, welches Geschöpf verfalle auf solche Gedanken.

Wie alt der Planet sei, möchtest du wissen, wiederholt sie bedächtig und blickt nachdenklich zu den Wolken auf.

Nach dem Augenschein geurteilt, sagt sie, ist er in keinem gesunden Zustand, er kränkelt, und ob das schon Altersschwäche genannt werden müsse, fragt sie, die Symptome seien bedenklich. Im südlichen Amerika werde sein lebenspendender Baumbewuchs großflächig abgeholzt, vernichtende Feuersbrünste wüteten in Kalifornien, in Sibirien, in Australien, heftige Orkane erschütterten diverse Regionen des Planeten, die Atmosphäre werde nach und nach vergiftet, die großen Meere würden übersäuern, Gletscher würden schmelzen, die Temperaturen in der Arktis bedrohlich steigen, die etablierte Balance des Lebens gehe verloren, der Planet verändere sich mit unübersehbaren Folgen, Rückkoppelungseffekte stünden bevor, die Lage sei dramatisch.

Paniknachrichten, fragt Krähe, keineswegs, nein, sondern spontan aufgezählte Beispiele, die jedem geläufig seien, ausnahmslos das Resultat von Menschenwerk.

Wie alt der Planet sei, möchtest du wissen, wiederholt sie und legt den Kopf zur Seite, die Industrialisierung habe ihm Wohlstand abgerungen, nun sei er nach menschlichem Ermessen abgewirtschaftet, und was von hohem Wert gewesen sei, die Kohle, das Petroleum, das Erz, das Gold, habe der Mensch ausgebeutet und verbraucht. Selbst Plutonium, ein Element mit vernichtenden Auswirkungen, das in der Natur wohlweislich nicht frei vorhanden sei, habe er bedenkenlos aus dessen Bindung an Uran gelöst, die Resultate seien bekannt.

Genaugenommen, sagt sie, sei der Planet ein Wrack, aus Sicht der Lebewesen ein Schatten seiner selbst.

Sein Alter, wiederholt sie, schwer zu sagen, ihr urteilt nach menschlichen Maßstäben, sagt sie, auf welches Ziel bewegt er sich zu, fragt ihr, aber was wenn er alterslos wäre. Nach euren Maßstäben scheint er auf dem Sterbebett zu liegen, ihr sorgt euch, seine Frist scheint abgelaufen, und dennoch, aus einem interesselosen, unbefangenen Blickwinkel betrachtet, entfaltet er ungeahnte Kräfte und läßt seine Muskeln spielen, wer wollte das abstreiten, er schickt nie dagewesene Orkane, die Wasser der Ozeane steigen und überfluten das Land, Talsperren drohen zu bersten, Flammenmeere toben und wüten wie niemals zuvor, er läßt über zahllose Jahrtausende gewachsene Lebensformen aussterben, für den Menschen gilt ›Eve of Destruction‹.

Erklären, fragt Krähe, wie willst du das erklären, fragt sie, die Dinge sind, wie sie sind, all eure linearen Abläufe, eure waghalsigen Konstrukte, eure Narrative – sie sind Luftschlösser, Projektionen eurer Wünsche und Hoffnungen, sie dienen dazu, eure Existenzängste zu betäuben, verstehst du, der Mensch stiftet Verwirrung und weiß es, er richtet, wo er nach Fortschritt strebt, nur Chaos an, doch was kümmert das den Planeten, eure Frage ist falsch gestellt, er ist alterslos, er kennt keine Zeit, keine Jahre, er ist Teil der ewigen Kreisläufe, unveränderlich, die Zusammenhänge bleiben wohlgeordnet, er schwingt in unerschütterlicher Balance, fügt hier hinzu, dort ergänzt er, neues Leben keimt, seine abweichenden Impulse reguliert er aus eigener Kraft.

Der Mensch, resümiert Krähe, leidet unter der eigenen Geltungssucht, er überschätzt sich maßlos, denn wer auf dem Planeten heimisch werden will, muß sich integrieren, sich einfügen unter die Lebewesen, wer Fremdkörper bleibt, wird abgestoßen.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Schluss damit!

Nächster Artikel

Unter falscher Flagge

Weitere Artikel der Kategorie »TITEL-Textfeld«

Berlin

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Berlin

Berlin, erinnerte sich Rostock, Berlin liege gar nicht weit entfernt von seiner Heimatstadt, er habe von Bremerhaven aus den Atlantik überquert und in Nantucket ausgemustert.

So sei es vielen ergangen, sagte London, die Überfahrt war strapaziös, und an der Ostküste habe man in Nantucket gleich anheuern können, denn die Jahrzehnte des amerikanischen Walfangs brachen an.

Was es auf sich habe mit Berlin, fragte Bildoon, weshalb, die Stadt liege auf der anderen Seite des Planeten, was kümmere ihn das.

Es sei eine andere Zeit, sagte Pirelli, von Walfang sei dort keine Rede mehr.

Im Überfluss

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Im Überfluß

Ob es Feigheit sei, fragte sich Thimbleman.

Eldin legte einen Scheit Holz nach, die Flammen schlugen hoch.

Der Ausguck schälte sich aus der Dunkelheit und setzte sich neben Thimbleman.

Die späte Moderne sieht bedrohlichen Zeiten entgegen, sagte Crockeye, wer hätte da keine Angst.

Der Panikmodus greift um sich, sagte Rostock.

Was weiß man

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Was weiß man

Nahstoll, unmöglich, wer sollte das sein, es gibt keinen Nahstoll, weder hier noch anderenorts, absurd, wer läßt sich so etwas einfallen, eine Schnapsidee, wir verweigern uns, in welchen Zeiten leben wir.

Allein dieser Name, wo stößt man auf solch einen Namen und wer verbirgt sich dahinter, Frau oder Mann, vom Bauchgefühl eher ein Mann, unverheiratet, unbedingt kahl, denn Glatze, noch vor wenigen Jahren peinlich, oberpeinlich, ist stylish geworden, er trägt sie wie andere den Hut, von Beruf Privater Ermittler, durchtrainiert, Mitte vierzig, international bestens vernetzt, mondäne Jugendstil-Villa in Rahlstedt, Toyota Yaris silberfarben, Pilotenschein, leiht sich bei Gelegenheit eine Cessna aus.

Termoths Rituale

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Termoths Rituale Weshalb nimmt er das so wichtig? Woher soll ich das wissen? Frag nicht so viel. Es beschäftigt mich eben. Was denn überhaupt? Er sagt nicht wiederherstellen, sondern wieder erschaffen. Von wem redest du, Thimbleman, du gehst mir aufs Gemüt. Du weißt es also selbst nicht, Ausguck? Sag schon. Wir reden von Termoth.

Verwirrung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Verwirrung

Die allgemeine Konfusion verdichte sich, nicht wahr, man müsse sich eine gehörige Portion Argwohn bewahren, sagte Tilman und  griff nach einem Vanillekipferl.

Farb schenkte Tee ein.

Der Planet sei heruntergewirtschaftet, die Dinge würden unaufhaltsam bröckeln, sagte er, der Status quo werde allerorten unzureichend oder falsch erklärt, und niemand wundere sich noch über ungewöhnliche Perspektiven.