Liebesgeschichte und Tragödie

Kurzprosa | Christine Wunnicke: Nagasaki, ca. 1642

Liebesgeschichte und Tragödie auf Deshima. Im 17. Jahrhundert waren die Holländer die einzigen westlichen Ausländer, mit denen die Japaner Handel trieben. Sie mussten auf einer kleinen Halbinsel vor Nagasaki wohnen, streng kontrolliert. Aber manchmal kam es doch zu kuklturverwirrenden Begegnungen. Christine Wunnicke, eine grandiose Erzählerin von Geschichten aus dem Fernen Osten, erzählt von einer Rache, die sich viel Zeit gelassen hat. Von GEORG PATZER

Wunnicke - Nagasaki - 9783946334750Mehr als vierzig Jahre hat Seki Keijiro auf seine Rache gewartet, jetzt ist seine Gelegenheit gekommen. Früher war er ein gefürchteter Kämpfer, jetzt ist er vor allem faul geworden. Dann aber, Ende des Winters, lässt er eine Zielscheibe in seinen Hof stellen und schießt mit dem Kurzbogen darauf: »Er sah dem Schnee gern zu, aber er stand nicht gern darin. Manche sagten, er stehe ohnehin nicht gern. Manche behaupteten, er habe seit der Belagerung von Osaka den Hintern nicht mehr gehoben, aus reiner Faulheit und weil er, dank seiner günstigen Verbindung mit der Tochter eines Brudersohns des ehrenfesten Itakura Shigemune, nicht musste.«

Aber jetzt schießt er mit dem Bogen und holt sogar »sein anderes Schwert« aus der Kiste. Und bewirbt sich als Inspektor für die Insel Deshima, dem einzigen Platz, an dem sich die Holländer der Ostindien-Kompanie im 17. Jahrhundert aufhalten dürfen: nur Holländer, kein anderer europäischer Ausländer.

Auf Deshima trifft Seki Keijiro auf den unruhigen Abel van Rheenen, ein junger Mann, der nur eine Fähigkeit hat: Er saugt die Sprachen nur so in sich auf. Und so ist der Sohn eines Gesellschafters der Kompanie Dolmetscher geworden, »Japonica-Sprache-Person«, wie er sich holpernd vorstellt. Sofort aber ist er auch fasziniert von Seki, von seiner Kleidung, seinem Benehmen, vor allem aber von seiner Haltung: »Er sitzt in seinem Beckenknochen wie in einem Lehnstuhl. Wie macht er das? Das möchte ich auch können.« Sie kommen sich näher, denn auch Seki ist fasziniert von diesem seltsamen 19-Jährigen, außerdem braucht er Informationen über ein holländisches Schiff mit dem Namen Rifuto.

Lange dauert es, bis Abel herausbekommt, dass es die »Liefde« ist, und noch länger, bis Seki ihm erzählt, dass sein Geliebter, der Samurai Kurihara Yuudai, einst von einer Kanone dieses Schiffs in Stücke gerissen wurde – dafür will er jetzt Rache nehmen. Längst haben sich die beiden da schon enger aufeinander eingelassen, Abel lernt »sechs japonesische Wörter für die Liebe und acht für die Unzucht, und erstere passten alle nicht, und letztere passten alle«. Auch »Liefde« heißt „Liebe“, dummerweise ist Abel der Nachkomme der Familie, die die Kanonen hergestellt hat und das Schiff besaß. Und so endet die Liebesgeschichte in einer Tragödie.

Christine Wunnicke hat eine wunderbare Novelle geschrieben, in der alles etwas in der Luft hängt. Was ist Liebe? Was ist es im japanisch-europäischen Sprach- und Kulturtransfer? Aber die Liebesgeschichte hat auch Elemente einer Samurai- und einer Geistergeschichte, denn auch der tote Yuudai tritt auf. Es ist eine Erziehungsgeschichte, bei der Abel eine geerdete Körperhaltung und sehr brachial Meditation lernt, eine Rachegeschichte, eine Geschichte einer lebenslangen Obsession und der Loyalität über den Tod hinaus.

Elegant, atmosphärisch dicht und mit viel Witz beschreibt Wunnicke die historische japanisch-europäische Kulturbegegnung, im schnellen Wechsel von komischen und drastischen Szenen häufig nur angedeutet, und die Japaner werden lebendig in ihren Persönlichkeiten, die mit wenigen Strichen präzise gezeichnet sind. Keijiros Unberechenbarkeit wird ebenso geschildert wie die Stringenz seiner Handlungen, aber Wunnicke hütet sich vor billigem Exotismus ebenso wie vor einer Vereinnahmung aus europäischer Sicht. Es gibt keine Erklärungen in dieser schmalen Novelle, sondern nur die Erzählung. So dass man am Ende genauso verblüfft ist wie Abel, der fragt: »Ist solche Rache eine Sitte deines Landes, oder bist du allein verrückt?« Und Keijiro antwortet: »Beides«.

| GEORG PATZER

Titelangaben
Christine Wunnicke: Nagasaki, ca. 1642
Berlin: Berenberg 2020
110 Seiten. 14.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Übernachtungs-Besuch

Nächster Artikel

Den ökologischen Fußabdruck mitdenken

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Ausrottung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ausrottung

Nein, sagte Termoth, in Kalifornien habe es keine so gravierenden Einschnitte gegeben wie 1832 den Trail of Tears oder 1890 die Schlacht am Wounded Knee, in Kalifornien sei die Ausrottung der Ureinwohner geschmeidig verlaufen, es habe keinen Aufschrei gegeben, und es sei nicht leicht, das Geschehen zu rekonstruieren, zumal die indigenen Stämme bereits von den Spaniern gewaltsam hätten christianisiert werden sollen, doch statt eines Erfolges habe sich Syphilis ausgebreitet und dazu in Epidemien Pocken, Typhus und Cholera, unerfreuliche Mitbringsel der Eroberer – die indigene Bevölkerung, vor der spanischen Missionierung siebzigtausend, sei bis zum Ende der Indianerkriege 1890 um über drei Viertel auf siebzehntausend reduziert worden.

Touste stutzte und spielte einige Töne auf der Mundharmonika.

Thimbleman starrte den Ausguck an.

Crockeye lächelte.

Eldin vergaß den Schmerz in der Schulter.

Worte

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Worte

Karttinger, wieso Karttinger, was ist mit Karttinger?

Was fragst du mich, Farb?

Du vermißt ihn nicht?

Er ist kein unterhaltsamer Gesprächspartner, das war er nie, er ist ein Griesgram, ein Misanthrop.

Für jeden Charakter eine Schublade, das klingt aber wenig ergötzlich, Tilman.

Instandsetzungen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Instandsetzungen

Verwirrend, sagte Annika, die Lage sei verwirrend.

Hohe Politik, spottete Farb und lächelte.

Restaurative Kräfte seien bestrebt, die hierarchischen Strukturen zu stabilisieren, sagte Tilman.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Er zweifle, daß das noch möglich sei, sagte er, China und Europa hätten sich als Machtblöcke etabliert, die Staaten seien im Übergang zu einer multipolaren Ordnung.

Ankommen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ankommen Er sei nicht angekommen im Leben, behauptet Gramner: Wie meint er das? Ist das ein Problem? Was bedeutet es denn, Tilman, daß jemand ankommt im Leben? Du kommst ja im Leben nicht an wie ein ICE, der in den Bahnhof einläuft, oder? Nein, eher nicht. Gramner hat eben das Gefühl, er müßte ankommen im Leben, Susanne. Das vermißt er. Gut möglich.

Ohne ihn

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ohne ihn

Mittendrin, sagte Farb, wir stecken mittendrin.

Keine Chance, sagte Wette.

Annika schenkte Tee nach, Yin Zhen, sie hatten wie immer das Service mit dem Drachendekor aufgedeckt, rostrot, das Tilman aus Beijing mitgebracht hatte, wo er einen Halbmarathon auf der Großen Mauer gelaufen war, diese Wettbewerbe, fand er, seien völkerverbindend, zumal in Zeiten wie diesen, ich komme darauf zurück.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Der Planet balanciere sich neu.