Satsuko und Buddha. In Deutschland kaum bekannt, ist Tanizaki Jun’ichirō (der Vorname steht traditionell hinten) einer der berühmtesten Autoren Japans. 119 Bücher hat er geschrieben, über Ästhetik, über Sex, über den Zusammenprall der japanischen mit der westlichen Kultur. Sein Altersroman Die Fußspur Buddhas mit dem Untertitel »Aus dem Tagebuch eines sonderbaren Greises« spiegelt auch die Zeit der 1960er-Jahre wieder. Von GEORG PATZER
Das Tagebuch des alten Herrn beginnt mit einem Eintrag über einen Theaterbesuch: »Gehe in die Abendvorstellung des Dai-ichi Gekijô in Shinjuku. Auf dem Programm stehen ,Onshû no konata (h)e‘ (Jenseits von Liebe und Hass), ,Hikoichi-banashi‘ (Hikoichis Erzählungen), ,Sukeroku Kuruwa no Momoyogusa‘. Möchte mir aber nur Sukeroku ansehen, die anderen Stücke nicht. Kanja in der Rolle von Sukeroku“ – nun ja. Aber Tosshô als Agemaki, das muss hinreißend sein, denke ich und bin auf Agemaki mehr gespannt als auf Sukeroku. Bin in Begleitung von Oma und Satsuko.«
Und als er über die jungen Schauspieler nachdenkt, meint er: »Seltsam, eigentlich habe ich keinerlei Hang zur Päderastie. Dennoch empfinde ich die jungen Onnagata, die Frauendarsteller unter den Kabuki-Schauspielern, neuerdings als sexuell stimulierend.« Aber nur, wenn sie geschminkt sind und auf der Bühne stehen. Dann aber fällt ihm etwas ein: »Dass ich überhaupt keine Neigung zur Päderastie hätte, lässt sich vielleicht doch nicht sagen.“ Und er erzählt, wie er einmal mit einem von ihnen geschlafen hat: „Bis zuletzt ließ er nicht spürbar werden, es bei ihm mit einem Mann zu tun zu haben, sondern war in jeder Hinsicht vollkommen.« Dabei war er wirklich kein »Hermaphrodit«, sondern war »mit einem durchaus imposanten Glied ausgestattet«.
So freimütig beginnt ein Roman von Tanizaki Jun’ichirō, der 1962 in Japan erschien und bereits 1966 gekürzt als »Tagebuch eines alten Narren« ins Deutsche übersetzt wurde. Jetzt erschien eine Neuübersetzung mit dem Titel »Die Fußspur Buddhas«, nur der Untertitel nimmt den alten Titel wieder auf: »Aus dem Tagebuch eines sonderbaren Greises«. Die neue Übersetzung, fünfzig Jahre nach der alten, ist vollständig, mit allen Abschweifungen und genauen Theatererzählungen, wie sie oben zu lesen sind – für den Nichtkenner dann schon ein wenig mühsam, die alte Übersetzung hat das alles weggelassen.
Und so freimütig, wie der Alte über seine homosexuellen Gelüste schreibt, geht es auch weiter. Utsugi Tokusuke ist ein 77-jähriger Familienvater, der sich weigert, seine vorgeschriebene Rolle als versorgender und verantwortungsbewusster Familienvorstand und liebevoller Großvater zu spielen. Für Tokusuke ist nur noch die Erotik wichtig. Und die erfüllt er sich mit seiner Schwiegertochter Satsuko, einer ehemaligen Tänzerin, die ganz offensichtlich mit dem Wissen ihres Manns ein Verhältnis mit dem Alten hat.
Vor allem ihre Füße haben es ihm angetan – und so baut sich langsam eine sadomasochistische Beziehung zwischen den beiden auf: »Seltsamerweise empfinde ich sexuelles Verlangen auch dann, wenn ich Schmerzen habe. Vielleicht sollte ich sagen: besonders dann, wenn ich Schmerzen habe. In dieser Lage üben Personen des anderen Geschlechts, die mir ihrerseits Schmerzen zuzufügen bereit sind, einen starken Reiz auf mich aus – zu solchen fühle ich mich dann ganz besonders hingezogen.«
Natürlich ist es für sie keine Liebe, Tokusuke bezahlt sie großzügig für ihre Dienste, und sie nutzt das weidlich aus. Für ein sehr teures Schmuckstück darf er sie an verschiedenen Körperstellen küssen, sie bringt ihm die amerikanischen Spiele »necking« und »petting« bei. Und als sie ihm dann den Stein zeigt, bekommt er wieder Schmerzen. Und blickt »in das triumphierende Gesicht von Satsuko und empfinde(t) unsagbare Lust.« Dabei ist er nicht einmal gesund.
Mit seinen 77 Jahren hat er einen Gehirnschlag überstanden, einen Herzinfarkt, Angina pectoris, aber das ist ihm egal: Er will seinen Egoismus uneingeschränkt ausleben. Dabei weiß er aber auch, dass seine Sexualität die eines Greises ist. Und dass er sich auch lächerlich macht mit seinen Begierden. Einmal hält Satsuko ihm einen Spiegel vor sein Gesicht, er blickt abwechselnd auf sein Bild und auf sie, und »um nichts in der Welt hätte man je auf den Gedanken kommen können, dass diese beiden Lebewesen ein und derselben Spezies angehören.«
Die Fußspur Buddhas ist ein Alterswerk von Tanizaki, der in Japan einer der berühmtesten Schriftsteller war, 119 Titel sind von ihm erschienen, selbst für den Nobelpreis war er immer wieder im Gespräch. Der Roman ist ein aktuelles Buch gewesen, die Handlung spielt Anfang der sechziger Jahre und spiegelt auch die Zeit wider, auch wenn der Fokus auf dem privaten Leben im Haus Utsugi liegt. Vor allem schildert es auch wie nebenbei die Kluft zwischen dem modernen und dem alten Japan, der Einfluss der Amerikaner und die Rückwendung zu den alten Traditionen, so wenn Satsuko moderne französische Filme mit Alain Delon sieht, aber die älteren Frauen des Hauses sich immer noch die Zähne schwarz färben.
Schön verwirrend ist der Schluss des Romans: Bei einer Reise nach Kyōtō beschließt er, Satsukos Fußabdrücke als Buddhas Fußspuren in seinen Grabstein einmeißeln zu lassen, so dass er quasi unter ihren Füßen liegt. Sie fährt, ohne ein Wort zu sagen, weg, und als sie wiederkommt, sagt sie: »Ich war, ehrlich gesagt, total geschafft. Wenn einem jemand von morgens bis abends ständig so an den Fußsohlen herumfummelt, das hält man doch nicht aus.« Und sie schließt mit den Worten: »Du bist sicher müde, Opa. Ich bin um 12 Uhr 20 von Itami weggeflogen und um zwei Uhr in Haneda angekommen. Mit dem Flugzeug ist man schon schneller.« Damit bricht der Roman ab. Beinah. Denn es folgen noch Aufzeichnungen der Krankenschwester, die ihn in der letzten Zeit betreut hat, seines Arztes und seiner Tochter, die ihre eigene Sicht auf die Kapriolen des Alten erzählen. Und der aufmerksame Leser fragt sich, ob er den Tagebucheinträgen des alten Manns vielleicht doch ein wenig zu sehr vertraut hat.
Titelangaben
Tanizaki Jun‘ichiro: Die Fußspur Buddhas
Aus dem Tagebuch eines sonderbaren Greises
Aus dem Japanischen von Josef Bohaczek
München: Iudicium Verlag 2018
258 Seiten. 26 Euro
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