Eine Reise ins Nichts

Roman | Michel Houellebecq: Vernichten

Diesmal ist es kein islamistischer Terror, der in Michel Houellebecqs neuestem Roman Vernichten heraufbeschworen wird. Das 600 Seiten starke Buch des »Sehers der Moderne« richtet sich – wie zuletzt auch in Serotonin (2019) – nach innen: diesmal auf den Zerfall der Familie (oder besser gesagt, den vielleicht vergeblichen Versuch, diese zu kitten) und auf den Rückzug des Ichs. Dieser Rückzug des Menschen auf das Private, diese Innenschau wird unterstützt durch die neuesten Apparaturen der medizinischen Diagnose. Es kommt also noch mehr zum Vorschein als der Frust über menschliche Beziehungen. Von HUBERT HOLZMANN

Das Cover zeigt eine Wolkenformation, die von der Sonne angestrahlt wirdDabei bleibt in Vernichten lange Zeit offen, worauf der französische Romancier eigentlich hinaus will: Führt das Geschehen mitten hinein in einen Politthriller, in die Geheimnisse von Cyberkrieg und Intrigen? Wird es erneut ein – wenn auch vorsichtiger – Blick in die nahe Zukunft der französischen Republik? Wir befinden uns schließlich im Jahr 2027, kurz vor der nächsten Präsidentschaftswahl. Der Amtsinhaber, der die Fäden der Macht bereits zwei Wahlperioden in der Hand gehalten hat – der Name Macron fällt in Houellebecqs Roman nicht –, kann nicht mehr antreten. Die neoliberale Partei ist auf der Suche nach einem geeigneten und vor allem überzeugenden Kandidaten.

Da tauchen im Internet merkwürdige Videos auf, die auf eine extrem gut geschulte Hackergruppe schließen lässt. Was anfangs noch als Spielerei und als witziger medialer Witz anmutet, stellt sich bald als schreckliche Realität heraus. So wird in einem Video, das auf Google- und Facebookseiten als Popup-Film aufploppt, gezeigt, wie der so erfolgreiche Finanzminister Bruno Juge, hinter dessen Figur sich unverkennbar der aktuelle Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire, der auch mit Houellebecq befreundet ist, verbirgt, mit der Guillotine hingerichtet wird. Dieses Video, das extrem gut gemacht ist, stellt sich allerdings noch als Fake heraus. Es schmälert jedoch die Chancen von Bruno Juge, zum Präsidentschaftskandidat der Mitte ausgerufen zu werden.

Cui bono? oder die Arroganz der Machtelite

Es stellt sich im Verlauf des Romans heraus, dass der Einfluss der Cyberwelt auf die Politik nicht zu vernachlässigen ist. Als Kandidat der Mitte setzt sich ein beliebter Fernsehmoderator (es ist nicht der rechtsextreme Zemmour, dem auch von Houellebecq im Buch keine Chancen eingeräumt werden) durch, der vor allem durch eine lange Bühnen- und Fernseherfahrung mit seinem perfekten Auftreten die Wähler überzeugen soll. Der Plan der Machtelite um den noch amtierenden Präsidenten ist es, einen medialen Showmaster und »Clown« für fünf Jahre als Interimspräsidenten zu etablieren, im Hintergrund soll Bruno Juge als Superminister die Linie der bisherigen Politik erfolgreich weiterführen und die Wiederwahl des alten Präsidenten ermöglichen.

Großes Kino mit Qualität zum Thriller wird das Buch, als sich die geheimnisvollen Anschläge fortsetzen. Diesmal nicht als virtuelle Fiktionen, sondern in Realität. Über gehackte Seiten wird die Öffentlichkeit zum Publikum, das die Angriffe auf die zivilisierte Welt miterleben muss: Zwei riesige Containerschiffe, deren Besatzung sich in letzter Minute nach einer eingehenden Warnung retten kann, werden versenkt. Sie zerbrechen im Ozean in zwei Teile und sinken. Danach brennen die Betriebsgebäude eines Weltmarktführers für Spermienhandel (Houellebecqs Urangst?) komplett ab. »Sie haben ein Gemisch von Napalm und weißem Phosphor verwendet, das sind militärische Mittel.« Die Steigerung ist die Sprengung eines Flüchtlingsschiffes, das sich in der Nähe der spanischen Küste im Atlantik befindet. Das 40-minütige gepostete Video zeigt, wie 500 Migranten im Meer ertrinken und, wer sich retten will, von einer Maschinengewehrsalve erschossen wird. Der Wahlkampf in Frankreich ist spätestens damit entschieden: Auf einem Flugzeugträger findet eine Gedenkveranstaltung für die Opfer statt, die Präsidentenwahl entscheidet sich zugunsten der herrschenden Politiker. Die Anschläge sollen auf das Konto einer terroristischen ökofaschistischen Gruppierung gehen.

Weltverschwörung und neue Heilsbringer

Von Paul Raison, einem hohen Beamten in Bruno Juges Ministerium mit guten Verbindungen zum Inlandsgeheimdienst, muss nun noch die Rede sein. Er ist Berater und Gesprächspartner des Ministers, Houellebecq interessiert sich für dessen Leben in dem Moment, in dem es kräftig durcheinandergerät. Durch die plötzliche Krankheit des Vaters wird Paul plötzlich gefordert und auch in seiner Beziehung zu Prudence bewegt sich etwas. Paul ist gezwungen zu handeln. Das bringt auch die weiteren Figuren der Geschichte, Pauls Frau und die Geschwister dazu, sich neu aufzustellen. Und so kommt Pauls Frau endlich dazu, ihrem Mann von ihren neuen spirituellen Erfahrungen zu erzählen: von der Wicca-Religion. Das eröffnet in der Geschichte einen völlig neuen Raum. Die mythisch-geheimnisvolle Dimension, die sich in den Droh-Videos zeigt, wird durch diesen neuen neo-religiösen Aspekt erweitert. Die Botschaften der Terroristen, verpackt in seltsamen Zeichnungen von Fünfecken und Kreisen, scheinen nicht mehr so weit weg von der Wirklichkeit zu sein.

Dennoch misslingen zunächst alle Versuche, die Botschaften der Terroristen zu entschlüsseln. Erst aus den Akten, die Pauls Vater bei sich hat, entsteht ein Gesamtbild: Die Terroristen verfolgen einen weltweiten grausamen Plan, um auf sich aufmerksam zu machen. Es zeichnen sich Dinge ab, die Verschwörungsmythen sehr nahekommen. Pentagramme werden auf Europakarten gezeichnet. Die Verschwörung scheint perfekt. Es gibt anscheinend den großen Plan. Wer sich dahinter verbirgt, bleibt im Dunkeln. Es deutet aber viel auf einen Geheimbund aus Freimaurern, Banken, Geheimdiensten hin. Houellebecq belässt es aber beim Geheimnis. Warum auch nicht? Der neue Präsident ist im Amt. Das Leben geht weiter. Vive la république! Die Wähler zählen nicht mehr, die Bürger ziehen sich zurück. Es bleibt der Einzelne, Vereinzelte, in Isolation lebende Mensch. Paul Raison.

Das Private rückt auch in Vernichten im Laufe des Romans wieder weit nach vorne. Der Minister Bruno Juge hat ganz menschliche Züge, ist nahbar, einer von den Guten. Und also nicht nur Pauls Chef, sondern beinahe ein Freund. Bruno verbringt seine Zeit nur noch im Ministerium, übernachtet in seiner Dienstwohnung. Was nicht irgendwelchen Skandalen geschuldet ist. Bruno gesteht er seine Eheprobleme. »Bruno sprach zunächst einmal nicht weiter; dann stammelte er mit gepresster Stimme: ›Wir haben seit einem halben Jahr nicht mehr Liebe gemacht. …‹ Er hatte den Ausdruck Liebe machen verwendet, fiel Paul sofort auf…« und erkennt in Bruno den Romantiker. Paul betrügt seine Frau nicht. Erst in der heißen Wahlkampfphase wird er sich in seine Wahlkampfassistentin verlieben. Denn sie versteht Brunos Emotionen zu wecken, was ihn in der Öffentlichkeit menschlicher auftreten lässt.

Houellebecq steht in Vernichten also nicht mehr auf hemmungslosen Sex, es fehlen die Alkoholexzesse, die gestört masochistischen Eskapaden, die Tendenz zur Selbstverstümmelung. Der Autor beschreibt das Familiäre. Was vielleicht noch quält, ist die Entfremdung. Er nennt es »vereinheitlichte Hoffnungslosigkeit« Der Held Paul und seine Frau Prudence haben sich auseinandergelebt. Sie lebt als Veganerin, er mit einer ungebrochenen Vorliebe für die klassische französische Küche und auch für Junk. Die Konsequenz für das Leben in der luxuriösen Maisonette-Wohnung am Parc Bercy: getrennte Schlaf- und Arbeitszimmer. Und ein geteilter Kühlschrank. Was einer gewissen Komik nicht entbehrt. Nach dem Motto: »Eine Verbesserung der Lebensumstände geht oft mit einer Verschlechterung der Lebensinhalte einher«. Ob diese Regel auch in der umgekehrten Form ihre Gültigkeit behalten würde?

Houellebecq ist kein Virologe, dennoch besteht auch er auf eine fast wissenschaftlich exakte Datenlage als Grundlage für eine seiner Ansicht nach sich vergrößernde Bedrohung: »Monat für Monat schien der Anteil der Asexuellen an der Bevölkerung nicht nur konstant, sondern mit zunehmender Geschwindigkeit anzusteigen«. In Pauls Familie versammeln sich unterschiedliche »Exemplare« dieser Spezies. Überall Spannungen, Störungen. Die Familie versammelt sich unerwartet, als der Vater, ein ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter, der mit seiner Haushälterin in einem kleinen Landgut in der Nähe von Lyon lebt und sich noch bis zuletzt um die Dechiffrierung von merkwürdigen Akten gekümmert hat, einen Gehirnschlag erleidet. Er wird zu einem Pflegefall, wodurch seine Kinder zurück in das Familienanwesen finden.

Aber bessert das die Lage der Betroffenen wirklich? Paul hat zu seinen Geschwistern eigentlich kaum mehr Kontakt. Die Katastrophen scheinen vorgezeichnet zu sein. Nicht nur in Pauls Träumen. Und doch ist vieles plötzlich wieder ganz einfach. Ganz banal. Wie das Leben so spielt. »Der Himmel ist wolkenverhangen, grau, dicht. Das Licht scheint nicht von oben zu kommen, sondern von der Schneedecke auf dem Boden auszugehen; es schwindet unerbittlich, offenbar wird es Abend.« Rückzug ins Einfache. Innerliche. Auch Pauls zweistündiges »Gespräch« mit seinem todkranken Vater ist eine einfache Lebensbeichte. »Er atmete tief durch, sah seinem Vater direkt in die Augen und begann dann zu sprechen. Er hatte nichts vorgesehen, nichts Bestimmtes, und es kam ihm vor, als stürzte er einen Hügel hinunter, die Augen immer auf die seines Vaters geheftet. …  Er sprach noch lange und verließ das Zimmer in einem Zustand tiefer geistiger Verwirrung.« Das Übersetzer-Duo Stephan Kleiner und Bernd Wilczek, das sich die Arbeit an Houellebecqs Roman aufgeteilt hat, hat Großartiges geleistet und das außergewöhnlich große thematische Spektrum von Vernichten in ihrer Übersetzung trefflich wiedergegeben.

Houellebecqs Vernichten erzählt dabei nicht alles zu Ende. Deutet nur an. Vieles bleibt offen und versinkt dabei in einen pseudo-mythischen Kitsch. Und vor allem darin scheint der Dreh- und Angelpunkt des Romans zu liegen: das Neureligiöse, Mythisch-Rituelle, das merkwürdige Parallelen zu identitären Themen der neuen Rechten aufweist. Das Dunkle, Geheimnisvolle, die Gewalt wird zum Motor, was selbst den Superminister Bruno, der sich im Zentrum der Macht befindet, an der »Möglichkeit politischen Handelns ganz allgemein« zweifeln lässt. Alles nur ein Zeichen von Dekadenz, Niedergang, Verfall? Vernichten erzählt Houellebecqs bekannte Botschaft: »Das Nichts ist ungewohnt nah.« Faszinierend und doch sehr verstörend!

| HUBERT HOLZMANN

Titelangaben
Michel Houellebecq: Vernichten
Aus dem Französischen von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek
Köln: Dumont 2022
624 Seiten. 28 Euro
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