Zum Leben erweckte Monster

Kinderbuch | J.K. Rowling: Der Ickabog

Schlaraffien ist ein wunderbares Königreich. Wer dabei sofort an das Schlaraffenland denkt, liegt nicht falsch. Gebäckteilchen wie Feenwiegen oder Himmelshoffnungen treiben einem, sollte man das Glück haben hineinbeißen zu dürfen, Tränen des Glücks in die Augen, Schinken, Käse, Räucherware, Obst: Es mangelt an nichts in diesem glücklichen Land. Bis der Ickabog zum Leben erwacht. Von ANDREA WANNER

Rowling - IckabogMehr als zehn Jahre nach dem Ende der Harry-Potter-Reihe, die schlichtweg unerreicht ist, gibt es ein neues Kinderbuch von J.K. Rowling. Das Manuskript lag schon lange halbfertig da, Corona brachte den Stein ins Rollen. Rowling veröffentliche das Buch als Fortsetzung im Netz und lud gleichzeitig junge Leserinnen und Leser dazu ein, an einem Malwettbewerb teilzunehmen und passende Illustrationen anzufertigen. So gibt sind weltweit 26 Ausgaben entstanden, alle von Kindern bebildert. Und natürlich gibt es auch die deutschsprachige mit 34 Illustrationen von Sieben- bis Zwölfjährigen, die das Märchen auf ganz unterschiedliche Art in Szene setzen.

Märchen erzählen von wundersamen Begebenheiten und gerne kämpft das Gute gegen das Böse. Dazu braucht es als Ausgangspunkt einen etwas naiven König, der sich selbstverliebt seinen Beinamen wählt, weil der so hübsch klingt: König Fred der Furchtlose. Seinen Mut musste er allerdings noch nie unter Beweis stellen. Es geht seinem Volk blendend und seine Regentschaft scheint darauf beschränkt zu sein, dass er sich, sorgfältig gekleidet, lächelnd und winkend seinem jubelnden Volk zeigt. Schwachpunkt sind seine beiden Begleiter, die sich als seine besten Freunde ausgeben, in Wahrheit den eitlen Machthaber nach Strich und Faden ausnehmen. Spuckelwert und Schlabberlot sind hinterhältig und alles andere als loyal. Dennoch müssen sie, als plötzlich in einem entlegenen Teil des Königreichs das Auftauchen des Ickabogs gemeldet wird, an der Seite von Fred in den Kampf ziehen.

Kein großes Problem: Die beiden wissen nur zu gut, dass es den Ickabog gar nicht gibt. Das schauerliche Wesen, dem die entsetzlichsten Eigenschaften angedichtet werden, ist nicht real. Die Situation eskaliert dennoch und Spuckelwert und Schlabberlot machen sich die Angst der Menschen vor dem Fabelwesen zu nutzen, um eine Schreckensherrschaft zu etablieren – von der der naive König Fred gar nichts mitbekommt.

Und natürlich baut Rowling neben diesen Losern und verantwortungslosen Gesellen auf der anderen Seite des Märchens ein paar beherzte Kämpferinnen und Kämpfer auf, vom Schicksal gebeutelt und manchmal auf Irrwegen, aber getrieben von Rechtschaffenheit und ehrenwerten Motiven.

Es ist ein Märchen, an vielen Stellen vorhersehbar und trotzdem in echter Rowling-Manier sehr spannend und voller origineller Ideen. Die 64 kurzen Kapitel eignen sich wunderbar zum Vorlesen – ob an allen Stellen wie geplant als Gutenachtgeschichte ist Geschmack- oder vielmehr Nervensache.

Klar, es geht gut aus. Es gibt eine Moral, wie sie zu einem echten Märchen gehört. Und an Harry Potter reicht der Ickabog nicht heran. Die Frage, wie Mythen durch Beharrlichkeit, Tricks und Drohungen zur Realität werden, ist aber durchaus eine, die uns auch in Zeiten von Fake News beschäftigt und beschäftigen muss. Wie trennt man Fakten von Behauptungen? Welche Rolle spielen Wissenschaft und belegte Fakten? Und was man mit denen, die dann das nicht akzeptieren. Es funktioniert in beide Richtungen: aus dem Nichts – wie im Falle des Ickabogs – eine nationale Bedrohung zu konstruieren. Oder aber echte Gefahren und daraus resultierende Maßnahmen und Einschränkungen als vermeintliche Einschränkung der Freiheit abzutun und dagegen zu protestieren.

Ein Blick hinter die Fassade lohnt sich allemal. Auch das zeigt das Monster, das – wie klug – in vielfältiger Gestalt geschildert wird. Als echter Fan macht es auf jeden Fall Spaß, der Spur des Ickabogs durch Schlaraffien zu folgen.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
J.K. Rowling: Der Ickabog
(The Ickabog, 2020). Mit 34 Illustrationen von Kindern. Aus dem Englischen von Friedrich Pflüger
Hamburg: Carlsen 2020
352 Seiten. 20 Euro
Kinderbuch ab 8 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Publikum

Nächster Artikel

Bruderliebe

Weitere Artikel der Kategorie »Kinderbuch«

Gedankenfutter, abgedreht serviert

Kinderbuch | Ross Montgomery: Die Tornadojäger Übertreibung ist ein patentes Mittel, verzwickte Probleme deutlich zu machen. Ausgeprägtes Beschützerverhalten von Eltern kann sich tatsächlich zum Problem auswachsen. Ob Kinder etwas dagegen tun können? Ross Montgomery hat sich Spektakuläres einfallen lassen, um mitten im Wirbelsturm philosophische Fragen zu diskutieren. Von MAGALI HEIẞLER

Neu in der Klasse: Vanessa

Kinderbuch | Kerascoët: Mein Weg mit Vanessa Wenn jemand neu in einer Klasse ist, hat sie es nicht leicht. Wenn sie dann auch noch beschimpft wird, ist es ganz schlimm. Da kann, da muss man helfen. Wie es in diesem Kinderbuch erzählt wird, findet GEORG PATZER allerdings zu platt

Positionsverlust

Kinderbuch | Claudia Schreiber: Sultan und Kotzbrocken in einer Welt ohne Kissen Vor zehn Jahren verzauberte die Geschichte vom herrschsüchtigen Sultan auf dem Kissenberg und seinem Kranführer Kotzbrocken, der ihn dort hinauf befördern musste. ANDREA WANNER war gespannt auf die Fortsetzung.

Ungeahnte Freiräume

Kinderbuch | Marc-Uwe Kling: Der Tag, an dem die Oma das Internet kaputt gemacht hat Das Internet, so meinen manche, hat durch seinen grundsätzlichen Wandel unseres Kommunikationsverhaltens und der Mediennutzung zu einer Veränderung in der Gesellschaft geführt, die mit der Erfindung des Buchdrucks verglichen werden kann. Was, wenn es nicht funktioniert. Von ANDREA WANNER

Gefiederte Gäste werden zu Freunden

Kinderbuch | Matías Acosta: Die Sommergäste – Las visitas del verano

Viele zweisprachige Kinderbücher hat der Schweizer Baobab Verlag in seinem Angebot. Eine schöne Sache, für die, die zwei Sprachen beherrschen, zweisprachig als Kind aufwachsen oder neugierig sind auf eine andere Sprache. Und zugegeben, der Klang einer anderen Sprache lässt eine Geschichte doch noch spannender erscheinen, oder nicht? – fragt BARBARA WEGMANN