Seine liebste Freundin lässt man nicht im Stich. Und wenn sie verloren geht, dann sucht man sie. So gefährlich es in der Großstadt auch sein mag, vor allem im Winter, wenn ein Schneesturm durch die Straßen tobt und man selbst noch ganz klein ist. Sydney Smith erzählt eine berührende Wintergeschichte. Von GEORG PATZER
Dunkel und düster ist es, verschwommen sieht man durch die Scheibe des Busses Menschen auf den Straßen. Ein kleiner Junge fährt durch die Stadt, dick eingemummelt, mit einer Pudelmütze auf dem Kopf. Dicht gedrängt stehen die Menschen, kaum schafft er es auszusteigen: »Ich weiß, wie es ist, klein zu sein in der großen Stadt.« Überall türmen sich Hochhäuser, der Verkehr tobt: »Keiner sieht dich, und es ist überall fürchterlich laut.«
»Sich da auszukennen, ist nicht immer einfach«, sagt er, und man sieht Drahtzäune, spiegelnde Pfützen, Leuchtreklamen, hastende Menschen, Fußgängerampeln und verglaste Bürohäuser: »Taxis hupen durcheinander, Radfahrer klingeln. Von überallher ertönen Sirenen. Auf den Baustellen wird gebohrt, gehämmert, gebaggert, gebrüllt.« Aber unbeirrt geht der Junge seinen Weg, über eine überdachte Brücke, an einem Schaufenster vorbei, das ihn in vielen Facetten widerspiegelt.
Der Junge geht allerdings nicht spazieren, nicht einkaufen, nicht zur Schule: »Aber ich kenne dich. Du findest dich schon zurecht. Wenn du willst, gebe ich dir ein paar Tipps.« Als er an einer schmalen Gasse vorbeikommt, meint er, Gassen könnten gute Abkürzungen sein: »Aber nimm die hier lieber nicht, da gehe ich immer schnell durch.« Auch an den drei großen wilden Hunden hinter dem Zaun geht er zügig vorbei und rät: »Darum würde ich einen großen Bogen machen, wenn ich du wäre.« Er kennt die Verstecke im Haselstrauch und auf dem schwarzen Walnussbaum und das Lüftungsrohr der Reinigung, aus dem so schöne warme Luft kommt: »Darunter könntest du dich zusammenrollen und ein Nickerchen machen.«
Langsam versteht man, dass der Bub nach seiner Katze sucht: Beim netten Fischhändler fragt er nach, an einer verschneiten Wiese warnt er sie: »Die Grasbüschel sind voller Kletten, die kriegt man schwer wieder ab.« Und jetzt sieht man auch, dass er überall kleine rote Zettel aufhängt: »Vermisst!« An dem blauen Haus, wo oft jemand Klavier spielt, an der roten Backsteinkirche, wo der Chor probt – die Katze mag Musik: »Da könntest du auf das Fensterbrett hüpfen.« An einem Laternenpfahl und im Park, wo er eine Lieblingsbank hat, wo auch seine Freundin immer sitzt.
Dichtes Schneetreiben in der Stadt
Aber dann wird das Schneetreiben immer dichter, bis man seine Hand vor den Augen nicht mehr sieht, und der Junge fährt wieder nach Hause, wo seine Mutter ihn umarmt: »Zu Hause ist es friedlich und kuschelig. Da warten eine Schale Milch und eine warme Decke auf dich. Wenn du magst, komm doch zurück.«
Ein anrührendes Bilderbuch hat Sydney Smith geschrieben, dessen ›Stadt am Meer‹ (mit Joanne Schwartz) in ebenso dunklen Bildern von den harten Arbeitsbedingungen unter Tage erzählt hat. Wie ein Comic in größere und kleinere Panels unterteilt, sieht man in ›Unsichtbar in der großen Stadt‹ die in dunkler Tusche gezeichneten Häuser und Straßen, die gebeugten, gesichtslosen Menschen, das finstere Gewimmel.
Die Farben sind gedeckt, als wenn eine ewige Dämmerung herrschen würde, auch wenn in der engen Gasse die Häuser, Bäume und Mülltonnen von der Sonne beschienen werden.
Kräftige, wilde Tuschestriche zeigen den Haselstrauch, dreckigweiße Punkte fallen vom Himmel, verdichten sich allmählich, decken den Park und die Autos zu, bis auch der kleine Junge kaum noch zu erkennen ist. Der stoisch im Park steht und dem eiskalten Wind und dem stürmischen Schneegestöber trotzt, die Hände tief in den Taschen. Es ist ein durch die Farben winterdüsteres, aber gleichzeitig auch wärmendes Bilderbuch über Freundschaft und Sorge, Miteinander und herzensvolle Gefühle.
Berührend ist es, wie sehr der Junge sich bemüht, die Lieblingsorte der Katze abzulaufen, die Menschen zu fragen, Plakate aufzuhängen, und wie er den Mut nicht verliert, als er sie nicht gleich findet: »Aber ich weiß, du findest dich schon zurecht.« Und außerdem hat er ihr ja Tipps gegeben, die auch zeigen, dass er seine Katze sehr gut kennt, ihre Lieblingsplätze, die Menschen, die sie füttern und umsorgen.
Am Berührendsten ist aber wohl das letzte Bild: Sechs kleine Katzenpfotenabdrücke im Schnee vor den kleinen roten Blumen, die im Garten vor dem Haus stehen.
Titelangaben
Sydney Smith: Unsichtbar in der großen Stadt
(Small in the City, 2019), übersetzt von Bernadette Ott
Hamburg: Aladin Verlag 2020
40 Seiten, 18 Euro
Bilderbuch ab 4 Jahren
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