Blaugefächerte Erinnerungen

Comic | Andrea Serio: Rhapsodie in Blau

Andrea Serio zeichnet eine Graphic Novel über den Faschismus in Italien und den Zweiten Weltkrieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die in leisen Tönen daherkommt. In blauen und braunen Farben komponiert er eine ›Rhapsodie in Blau‹, angelehnt an George Gershwins ›Rhapsody in Blue‹, die die Protagonisten auf der Flucht von Italien nach Amerika und zuletzt als US-Soldaten wieder zurück nach Europa führt. Dabei erleben wir Weltgeschichte am persönlichen Beispiel. Von FLORIAN BIRNMEYER

Rhapsodie in Blau Es beginnt eigentlich alles ganz friedlich – mit einem Sommer am italienischen Meer, den die Familie 1938 gemeinsam verbringt. Am letzten Tag des Sommers dringt allerdings die Nachricht in die Idylle aus Schwimmen, schönen Mädchen, Feiern und Tanz herein, dass jüdische Lehrer künftig in Italien nicht mehr unterrichten dürfen. Wo gerade noch ungestört der Sommer ausklang, herrscht nun Verstörung. Denn der junge Martino hat sich während des Sommerurlaubs voller Zuversicht auf seine Griechisch-Prüfung vorbereitet. Lehrer kann er nun nicht mehr werden …
In träumerischen Tableaus aus Blau-, Braun- und Gelb- sowie anderen Pastelltönen zeichnet Serio einen Comic, dessen Wirkung in großen Teilen auf seiner wunderbar künstlerischen Gestaltung beruht. Denn obwohl die Graphic Novel frei dem italienischen Roman ›Ci sarebbe bastato‹ von Silvia Cuttin aus dem Jahr 2011 folgt, setzt sie weniger auf Worte als auf Bild-, Farb- und Kunsteffekte sowie vor allem auf die damit transportierte Stimmung.

Die ästhetisch ansprechende Atmosphäre kontrastiert mit den äußeren Ereignissen: der grassierende Antisemitismus, der Ausschluss von Juden aus dem gesellschaftlichen Leben in Italien ab 1938, der in Übergriffe und letztlich in die Judenverfolgung und Internierung in Konzentrationslagern mündete, später der Zweite Weltkrieg zwischen Deutschland, seinen Verbündeten und den Alliierten. Im September 1939 fliehen die Kinder der jüdischen Familie des Romans/der Graphic Novel, Andrea und Magda Goldstein, mit einem Dampfschiff in die USA.

Flucht in die Neue Welt

Ihre Flucht führt sie nach New York, mitten in die pulsierende Großstadt, wo Andrea Goldstein als Laborant zu arbeiten beginnt und sich in eine attraktive junge Österreicherin verliebt. Andrea Goldstein sagt über New York: »Ich fühlte mich zu Haus, gleichzeitig an einem außerirdischen Ort und im Mittelpunkt der Welt. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus.« Doch die Sorgen über die in Italien Zurückgebliebenen – die Eltern, den Verwandten Martino Goldstein und andere – bleiben nicht aus.

Andrea entscheidet sich, sich zur US-Army zu melden, um gegen die Deutschen zu kämpfen. Er wird Soldat in der 10th Mountain Division. Zunächst durchläuft er mit seinen Kameraden, mit denen er sich anfreundet, eine harte Grundausbildung und ein Ski-Training. Daraufhin werden sie mit dem Schiff nach Italien gebracht, wo sie im März 1945, kurz vor Ende des Krieges, im Apennin ihren Einsatz haben. Die Mountain Division hat die Aufgabe, im bergigen Gelände zusätzliche Gebiete zu erobern und Stellungen gegen die Deutschen zu verteidigen, die mit den verbleibenden Kanonen und Granaten auf sie schießen. Dabei riskiert Andrea Goldstein, ein Sanitäter, alles.

In achronologischer Weise erzählt der Comic die Geschichte der Familie Goldstein vor und während des Zweiten Weltkriegs in Italien und Amerika: Ein schöner letzter Sommer im Jahr 1938, eine Flucht vor dem Faschismus und den Nazis, das kurze Glück in den USA, darauf der Kriegseinsatz von Andrea Goldstein in Italien. Wie bei einem anmutigen Fächer ineinandergefaltet sind die Bestandteile dieser Erzählung, bei der sich Rückblenden und Vorausblenden abwechseln. Wie bei dem Musikstück der Rhapsodie sind die Sujets regelmäßig lose aneinandergereiht.

In regelmäßig loser Reihe

Während seiner Zeit bei der Armee erinnert sich Andrea Goldstein an die 1924 erschienene ›Rhapsody in Blue‹ von George Gershwin. Und auf eine gewisse Art ist die titelgebende Rhapsodie in Blau nicht nur aufgrund der für den Comic bestimmenden Farbe Blau von Bedeutung für dieses Werk: Denn so wie das Musikstück Jazz- und Klassikelemente miteinander verbindet, vermengt die Graphic Novel die verschiedenen Register des Erzählens, nämlich Tragisches (Flucht, Krieg, Verfolgung) und Idyllisch-Bukolisches (Baden, Tanz, Sommer, Urlaub, Liebe).

Die Geschichte von Cuttins Roman ›Ci sarebbe bastato‹ und damit auch von Serios Graphic Novel beruht übrigens auf wahren Tatsachen. Die Nacherzählung des Lebens von Andrea Goldstein basiert ab seinem Eintritt in die Armee auf dem Briefwechsel zwischen Andrea Goldstein, dem Ich-Erzähler, und seiner Cousine Cati, die die Briefe aufbewahrte. Andrea Goldstein starb am 4. März 1945 am »Zielpunkt How« mit 22 Jahren durch eine Granate. Martino Goldstein überlebte als einer der wenigen italienischen Juden das Konzentrationslager Auschwitz und ging nach dem Krieg nach Israel, wo er 2014 mit 92 Jahren starb.

Wer sich für eine historische Geschichte in poetischen, ästhetisch und künstlerisch anspruchsvollen und ansprechenden Bildern interessiert, liegt mit ›Rhapsodie in Blau‹ richtig.

| FLORIAN BIRNMEYER

Titelangaben
Andreas Serio: Rhapsodie in Blau
Hamburg: Schreiber & Leser 2020
128 Seiten, 27,80 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
Leseprobe auf der Verlagswebseite

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wer will schon allein sein

Nächster Artikel

So viel Leidenschaft zwischen zwei Buchdeckeln

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Die Rückkehr des Alptraumjägers

Comic | T.Sclavi (Text), A.Stano, G.Trigo, G.Montanari & E.Grassani (Zeichnungen): Dylan Dog Gesamtausgabe Band 1 Seit nun fast 30 Jahren existiert in Italien die ungemein populäre Comicfigur ›Dylan Dog‹: Ein verspielter Horrorcomic über einen Ermittler, der sich selbst »Jäger des Grauens« ans Klingelschild geschrieben hat. Trotz großer internationaler Beliebtheit war ihm hierzulande kein durchschlagender Erfolg vergönnt. Ein Ableger des kroatischen Comicverlags ›Libellus‹ hat im Dezember 2014 mit einem ambitionierten Liebhaberprojekt den gewagten Versuch einer ›Dylan Dog – Gesamtausgabe‹ in Deutschland gestartet. Mittlerweile ist der vierte Band erschienen und BORIS KUNZ hofft, dass es so weitergeht.

Zuviel des Guten

Comic | Glyn Dillon: Das Nao In Brown Glyn Dillon erschafft in ›Das Nao In Brown‹ eine facettenreiche, aufgrund einer Aggressionsstörung recht zwiespältige Protagonistin, der er mit Beiläufigkeit nahekommen will. CHRISTIAN NEUBERT staunt über das Potenzial und die Schönheit des Bandes – hält das aber für den falschen Weg.

Seinerzeit in Taiwan

Sean Chuang: Meine 80er. Eine Jugend In Taiwan   Comiczeichner und Werbefilmer Sean Chuang blickt zurück: Der im Zürcher Verlag Chinabooks zweisprachig veröffentlichte Band ›Meine 80er. Eine Jugend In Taiwan‹ möchte anhand biographischer Comic-Episoden einem Lebensgefühl in einer Zeit des Umbruchs nachspüren. Von CHRISTIAN NEUBERT

Superantihelden

Comic | Batman: Der Weiße Ritter / Superman: Das erste Jahr, Bd. 1

Superman und Batman sind weiterhin old, but gold unter den Comic-Superhelden. Zig Mal wurden sie in ihrer langen Geschichte schon neu erfunden – häufig auch zum Schlechten. Doch zwei neue Comics gehen in eine erwähnenswerte Entwicklung und bereiten beide Helden auch für Neueinsteiger mit allerlei neuen Drehungen auf. PHILIP J. DINGELDEY hat sich durch diese Comics gearbeitet.

Traditionspflege und Experimentierfreude

Porträt | Der Splitter-Verlag

Wer in Deutschland, dem ewigen Entwicklungsgebiet der Neunten Kunst, Comics verlegt, der muss ein Enthusiast, ein Missionar sein – und natürlich ein solider Geschäftsmann, eine solide Geschäftsfrau. In unregelmäßigen Abständen wollen wir die Verlage vorstellen, die sich dem wechselvollen Handel mit Alben und Heften, mit Serien und Graphic Novels widmen. Den Anfang macht der in Bielefeld ansässige Splitter Verlag. Von SVEN JACHMANN