Als Kind hatte ich eine Kette mit einem silbernen Anhänger: ein Seepferdchen. Wer macht sich darüber schon Gedanken, sieht hübsch aus, ein so seltsames Tier, ein bisschen Fisch, ein bisschen Pferd. Aber diese Wesen sind so unendlich viel mehr, ein Buch würde da nicht reichen. Aber ein Buch mit dem gefühlten Inhalt von vielen Büchern, spannend und erhellend, bringt das Wesen eines Seepferdchens schon bedeutend näher – findet BARBARA WEGMANN.
Als Gott das Seepferdchen erschaffen habe, so wird ein Meeresbiologe zitiert, da sei er vermutlich besoffen gewesen. Eine lustige Vorstellung. Vielleicht aber gönnen sie sich ja wenigstens ein Glas Wein und beginnen eine Lektüre, die es in sich hat: Informationen bis zum Abwinken, Humor, der sie laut auflachen lässt, Darstellungen, die ans Herz gehen, eine so ganz verständliche Sachlichkeit, endlos scheinende Perspektiven rund um einen Fisch, der sich Seepferdchen nennt, eine wahre Fundgrube an Aspekten. All das schafft ein insgesamt wunderschönes Porträt, das nicht schillernder sein könnte. Was für eine fantastische Unterhaltung!
Der erste Eindruck, als ich die Lektüre begann, war: wo bitte sind hier die Bilder, Abbildungen, wo sind die Fotos der uralten Höhlenmalereien, die bezeugen, dass man Seepferdchen schon in Urzeiten kannte, wo die Fotos der TCM-Medikamente die immer noch gemahlene Seepferdchen als Heilung für auch kurioseste Leiden versprechen und anbieten, wo die fotografischen Belege für Arten und Besonderheiten der Rosse der Meere. Aber je tiefer man sich, ob man will oder nicht, in den Text verbeißt, desto weniger fehlen irgendwelche Illustrationen. Das liegt aber auch ganz sicher an der wirklich absolut erfrischenden Erzählweise von Till Hein, Wissenschaftsjournalist und großer Fischfreund. Da reichen Worte für viele Bilder.
Das Tier, das er sich für dieses ganz besondere Sachbuch vorgenommen hat, gilt als »Individualist der Meere«. Zum ersten Mal begegnet Hein dem Seepferdchen, als er in Peking in Sachen Chinesische Küche für einen Artikel recherchiert. »Kostenpunkt für die anmutigen, wenige Zentimeter großen Tierchen mit Pferdekopf vom Grill: umgerechnet fünf Euro.« Das Aroma habe ihn an Pappe und Ruß erinnert, schreibt Hein. Nach diesem kulinarischen Ausrutscher dann doch lieber die grandiose Stoffsammlung für ein Buch: unabhängig voneinander bewegliche Augen hat das kleine Wesen, Augen mit einem »erstklassigen Sehsinn«, Augen, die, »ähnlich wie der Zoom einer Fotokamera visuelle Eindrücke vergrößern kann«, Chamäleon-Augen, es ist meditativ, nicht aggressiv, es ist ein kleines Raubtier mit enormer Gefräßigkeit, beim Flirten oder bei schlechter Laune geben sie Brummgeräusche von sich, sie verändern ihre Farbe je nach Situation, kommunizieren darüber sogar, sind als »Verführer eine Wucht«, Hochzeitstänze können bis zu neun Stunden dauern und: bei den kleinen Rössern werden die Männchen schwanger. Wohlgemerkt, wir sprechen über nahezu winzige Wesen, die kleiner als ein menschlicher Fingernagel sein können, oder bis zu 35 Zentimeter groß werden, je nach Spezies.
Als »Babydrachen von fernen Inseln« wurden sie früher bezeichnet, oder als »Insekten der Meere«, aber: ein Seepferdchen ist ein Fisch, der langsamste Fisch der Welt: »Fraglich also, ob Seepferdchen bei ihrem lahmen Tempo im Wasser das Schwimmabzeichen ›Seepferdchen‹ schaffen würden.«
Seepferdchen sind »äußerst fruchtbar«, eigentlich können sie sich ununterbrochen fortpflanzen und bringen mehrere Hundert Jungtiere zur Welt: »Kaum sind die Strapazen der Geburt überstanden, kommt die Partnerin oft wieder angeschwommen und die nächste Begattung steht an. Manche Väter sind bereits innerhalb weniger Stunden wieder schwanger. Die Paparolle ist bei den Rossen der Meere ein Hochleistungsjob.« Wenige Jungtiere aber überleben, ihr Lebensalter beträgt dann vielleicht 4 Jahre.
Hein erzählt aus Forschung und Medizin, aus Biologie und Bionik, aus Mythen und Geschichten, aus Fischerei und Naturschutz, stets das Seepferdchen im Fokus, schildert lebendig und geradezu spannend das immer noch nicht vollständig erforschte Wesen, dieses »sehr sozialen und sensiblen Tieres«. Er stellt die Seepferdchenflüsterin aus Visselhövede vor, die Seepferdchen züchtet und seit 16 Jahren keinen Tag ohne die gefährdeten Tiere verbracht hat‘. Er zitiert Untersuchungen und Forschungsergebnisse und Studien. Geht in der Zeit weit in die Historie zurück und wagt den Blick in die Zukunft, es geht schließlich ums Überleben der »Rösser der Meere«.
Es ist die Vielseitigkeit der Aspekte, die dieses Buch so unglaublich attraktiv macht, eine tolle Recherchearbeit, die den großen Spaß am Thema überall zwischen den Zeilen durchblitzen lässt. Eine Recherchearbeit, die sogar bis Hollywood reichte: »Im US-amerikanischen Animationsfilm ›Findet Nemo‹ aus dem Jahr 2003 … reichte es für die Hengste und Stuten der Meere, die stolzen Zug- und Reitpferde der Götter, nur zu einer Lachnummer: In einer Nebenrolle ist ein Seepferdchen zu sehen, das ständig niest- und ausgerechnet an einer Wasserallergie leidet. Möge Poseidon die Verfasser dieses Drehbuchs holen!«
Titelangaben
Till Hein: Crazy Horse
Launische Faulpelze, gefräßige Tänzer und schwangere Männchen: Die schillernde Welt der Seepferdchen
Hamburg: Mare Verlag 2021
240 Seiten, 22,00 Euro
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