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Irrfahrten

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Irrfahrten

Die Odyssee unserer Tage, sagte Tilman, spiele sich nicht an der Oberfläche des Planeten ab, nicht auf den Meeren und Inseln wie einst.

Anne lächelte still, sie schenkte Tee nach, stellte die Kanne zurück auf das Stövchen und überlegte ernsthaft, für den Spätsommer einen Pullover zu stricken und Handschuhe für den bevorstehenden Winter, bei Gelegenheit fand sie Gefallen daran, Tilman zu bemuttern, doch alles hatte seine Grenzen, definitiv.

Für die Griechen, sagte er, war die Eroberung des geographischen Raumes wesentlich, heutzutage ist das anders, im Gegenteil, dieser Raum ist komplett besiedelt und wird knapp, mehr noch, Extremwetterlagen beginnen ihn zu reduzieren, er wird unbewohnbar werden.

Anne nickte abwesend. Sie blätterte in einer Ausgabe des Ulysses des Iren James Joyce, nein, in eins zu lesen war ihr bei diesem Text nicht möglich, sie ließ sich Zeit, las abschnittweise und rechnete gar nicht darauf, die Lektüre vollständig abzuschließen.

Die Greueltaten des Odysseus während des Trojanischen Krieges sind nicht das Thema, er ersann die List mit dem hölzernen Pferd, die den Griechen den Sieg gewann, sagte Tilman, die Odyssee unserer Tage jedoch bahne sich den Weg durch die Gefilde der Ökonomie, der Mensch finde noch jedesmal ein Feld, seine überschüssige Kraft auszutoben, das habe pubertäre Züge, er muß Party feiern, so oder so, bei den blutrünstigen Kriegern wie bei den smarten Börsianern, wer wollte das abstreiten, testosterongesteuertes Elend, hochgepeitschte Leidenschaften, seht euch aber die Milchgesichter an, welch lächerliche Figuren, flugs wird ein Konzern gegründet, der Traum vom Sommermärchen, ein vielversprechendes Start-up, das, kaum börsennotiert, sogleich zu den Marktführern gerechnet wird, und keine Sekunde vergeht, da hat der Eigentümer gewechselt, stante pede, hopplahopp, feindliche Übernahme, gehe zurück auf Los, ziehe keine viertausend Mark ein.

Solch eine Odyssee zieht sich hin, das moderne Finanzkapital agiert global auf labyrinthischen Pfaden, hier werden öffentliche Haushalte um Milliardenbeträge erleichtert, hopplahopp, dort entledigen sich die Tycoons im Handumdrehen ihrer taumelnden Projekte und werden Teilhaber von multinationalen Einheiten, die Milliarden werden auf, welch monströses Wort: ›Steueroasen‹ zwischengelagert, der Weg kann endlos sein und führt auf schmalem Grat entlang, der Verlierer wird, indes er Millionen Menschen mit sich reißt, tief in den Abgrund stürzen, aus dem Tag in die Nacht, in den Orkus mit ihm, es geht um Kapital und um Herrschaft.

Das unterscheidet den Odysseus von seinen modernen Nachfahren?

In der antiken Odyssee ging es darum, aus dem Kriegsschauplatz Troja  zurück in die Heimat zu finden, was mit gefährlichen Umständen, mit Versuchungen, mit Abenteuern verbunden war, zehn Jahre lang, er erinnere nur, sagte Tilman, an die entsetzlichen Tage in der Höhle des einäugigen Kyklopen Polyphem, Sohn des Poseidon, der kurzerhand sechs der Gefährten verspeiste – schreckliche, blutrünstige Zeiten. Polyphem wurde schließlich, während er schlief, von Odysseus geblendet, und immer war dessen Ziel, nach Ithaka zurückzukehren, in vertraute Zusammenhänge, keine Rede davon, daß man sich hätte ohne Ende bereichern wollen. Schön und gut, sagte Tilman, Odysseus war der Sohn des Monarchen Laërtes, doch es ging ihm nicht vorrangig um Macht oder um Herrschaft, er stellte den status quo ante wieder her.

Wie auch immer, sagte Anne, ein ungewisses Unterfangen, griff zu ihrer Tasse und trank einen Schluck Tee. Tasse wie Kanne schmückte ein rostroter Drache, sie war vernarrt in diesen Drachen, ein zierliches und anmutiges Geschöpf wie jener Drache von Hergé aus dem Blauen Lotus in Shanghai.

Die Unterschiede seien vielleicht nicht scharf gezeichnet, sagte Tilman, doch Odysseus wecke wenigstens Sympathien, er war gar nicht geneigt, in den Krieg gegen Troja zu ziehen, und mußte erst durch eine List des Palamedes gewonnen werden, nahm aber vor Troja grausame Rache, er war gerühmt für seine Schlauheit und sein rhetorisches Talent, ein tapferer und listiger Krieger. Mag sein, wir, in der Moderne verloren, nehmen die Bodenhaftung wahr, und deshalb steht er uns näher als die Figuren unserer zeitgenössischen Heroen, die in fremden Welten leben.

Aber wir kennen sie, Tilman, sie treten namentlich auf, sie verfassen Bücher,  präsentieren sich messianisch auf großer Bühne, sie halten ambitionierte Vorträge. Eitle Selbstdarsteller, lautstark, ekelerrregend, bei ihnen wird die Ökonomie zum Kriegsschauplatz, so als ginge es um Eroberungen, sie sammeln Scharen von Anhängern hinter sich, sie häufen nie gesehene Reichtümer an, die Firma wird zu ihrer Festung, mit einem Wimpernschlag zerstören sie Finanzimperien, pubertierende Milchgesichter, Hybdridgestalten des Maschinenwesens, die die Expansion auf die Spitze treiben, die im Rausch ihrer kurzfristigen Erfolge nie dagewesene Pläne entwerfen, sie wollen den Mars besiedeln, sie etablieren ihr neuestes Projekt, das sie künstliche Intelligenz titulieren, und sind im Begriff, Fortschritt und Wachstum ad absurdum zu führen.

Sie vollstrecken, spottete Tilman, das, was ihre erbitterten Gegner immer schon kritisierten.

So wird ein Schuh draus, sagte Anne, lachte entspannt, stellte die Tasse zurück, klappte ihr Buch zu.

| WOLF SENFF
| TITELBILD: Johann Georg Trautmann (1713–1769), J G Trautmann Das brennende Troja, als gemeinfrei gekennzeichnet.

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Ob sie noch schreibe, wollte Farb wissen.

Anne zögerte zu antworten und griff nach einem Keks.

Oder sei das zu persönlich gefragt.

Keineswegs, nein, wehrte sie ab, im Gegenteil, das sei ein Thema, das sie sehr beschäftige.

Tilman blickte auf.

Farb schenkte Tee nach.

Es war später Nachmittag, Regen schlug gegen die Scheiben.

Im Kamin flackerte künstliches Feuer.

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