Mit Eichendorff im Cabrio

Roman | Klaus Modick: Fahrtwind

»Ich hatte herrlich lange geschlafen und ausgiebig gefrühstückt und setzte mich dann mit meiner Gitarre auf die Treppe, die vom Wintergarten in den Garten führte. Entspannt drehte ich mir eine Morgenzigarette, mischte zwecks Horizonterweiterung ein paar Krümel Gras dazu.« Das sind die selbstverliebt anmutenden Gedanken des Protagonisten aus Klaus Modicks neuem Roman Fahrtwind. Von PETER MOHR

Modick, der am 3. Mai seinen 70. Geburtstag feierte, gehört seit vielen Jahren als feste Größe zum deutschsprachigen Literaturbetrieb. Als Übersetzer, Essayist, Kritiker und fleißiger Erzähler hat sich der promovierte Literaturwissenschaftler einen Namen gemacht. Zuletzt hatte sich Modick in einer reizvollen Mischung aus Fakten und Fiktion dem baltischen Dichter Eduard von Keyserling (Keyserlings Geheimnis, 2018) und der Worpsweder Künstlerkolonie (Konzert ohne Dichter, 2015) gewidmet.

An diesem bewährten Muster hat der Autor festgehalten und nun Eichendorffs Taugenichts in die frühen 1970er Jahre verfrachtet. Der Protagonist ist ähnlich wie im Original ein Müller-Sohn – mit dem feinen Unterschied, dass es sich in der zeitgenössischen Fassung um den vornamenlosen Sohn eines erfolgreichen Heizungsbau-Unternehmers namens Müller handelt.

»Wie lange sollen wir dich eigentlich noch durchfüttern? Wenn du schon nichts mit der Firma zu tun haben willst, dann sieh wenigstens zu, dass du mir nicht mehr auf der Tasche liegst«, wettert Müller senior gegen seinen antriebslosen Sohn, der sich einzig für die Musik begeistern kann. Mit der Gitarre im Gepäck und angetrieben von einer diffusen Mischung aus Fernweh und Freiheitsdrang zieht er per Anhalter Richtung Süden.

Nicht in der Kutsche wie bei Eichendorff, sondern in einem weißen Mercedes-Cabrio wird er von zwei Damen zur Mitreise eingeladen. Der Fahrtwind weht ihm um den Kopf, alles wirkt etwas irreal – gerade so, als säße ihm Eichendorff als Beobachter im Nacken. Und prompt verliebt sich Müller auch in die »schöne Schlanke«. Über Wien geht es nach Rom, in ein stattliches Landhaus. Er lernt auf seiner Selbstfindungs-Aussteigertour herrlich schräg gezeichnete Figuren kennen. Mit seiner Gitarre, toskanischem Rotwein, handverlesener Ernte aus Hanffeldern und psychedelischen Experimenten mit Giftpilzen (in der zeitgenössischen Literatur bereits von Martin Suter in Die dunkle Seite des Mondes, 2000, ausschweifend beschrieben) genießt die Hauptfigur ihre Freiheit.

Für seine Müller-Figur hat Autor Klaus Modick einen hermetischen Kosmos aus Musik und Poesie geschaffen. Der Protagonist glaubt unbeirrbar an die Kraft der Kunst, die Musik von Bob Dylan und Leonard Cohen flimmert wie ein Soundtrack allgegenwärtig durch die Zeilen. Im Hintergrund tauchen schemenhaft die Nachwehen der Studentenbewegung und die RAF-Verbrechen auf.

Das alles ist handwerklich ausgesprochen gut arrangiert, mit leichter Hand und einem ausgesprochen heiteren Tonfall verfasst, doch Müllers Flucht in den Süden als Gegenentwurf zum Leben in der Heimat funktioniert nicht wirklich. Der authentische Atem der 1970er Jahre will sich bei der Lektüre nicht entfalten. Allenthalben stört das große Vorbild Eichendorffs, nach dessen Pfeife das gesamte Figurenensemble tanzt.

Klaus Modicks Roman Fahrtwind hätte man als federleichtes Sommerbuch lesen können, das mit reichlich mediterranem Feeling ausgestattet ist, als zarte Hymne auf die Hippie-Kultur und offene Liebeserklärung an Italien. Doch diese Freuden werden durch Modicks hochambitionierten Eichendorff-Überbau leider etwas getrübt.

| PETER MOHR

Titelangaben
Klaus Modick: Fahrtwind
Köln: Kiepenheuer und Witsch 2021
196 Seiten. 20.- Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Mein Körper gehört mir

Nächster Artikel

Wenn eine Rolle eine große Rolle spielt

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Summer of 69

Roman | Ulrich Woelk: Der Sommer meiner Mutter In seinem neuesten Roman zeichnet der Autor Ulrich Woelk ein berührendes und rückwirkend leicht melancholisch anmutendes Zeitpanorama der 1960er Jahre. Der Sommer meiner Mutter enthüllt eine Stimmung zwischen Bigotterie und dem aufkeimenden Wunsch nach Selbstverwirklichung, zwischen technischem Fortschrittsglauben und menschlichem Unvermögen. Eine Besprechung von INGEBORG JAISER

Blick in mexikanische Seele

Roman | Guillermo Arriaga: Das Feuer retten

Ein Buch so schwer wie ein Ziegelstein, so kantig, so grob und hart. Und doch übt dieser opulente Roman aus der Feder des 64-jährigen Mexikaners Guillermo Arriaga einen seltsamen Reiz aus. »Ich habe in meiner Jugend Gewalt erlebt, ich kenne die mexikanische Seele genau und ich glaube, dass wir alle unsere Herkunft nicht leugnen können«, hatte Ariaga, der seine Kindheit in einem der gewalttätigsten Viertel von Mexiko City verbracht hat, kürzlich in einem Interview mit der Wiener Zeitung erklärt. Von PETER MOHR

Drei Killer und ein Mathelehrer

Roman | Kotaro Isaka: Suzukis Rache

Jeder von ihnen hat seine eigene Methode. Der Wal sorgt dafür, dass seine Opfer ohne zu zögern Hand an sich legen. Die Zikade tötet mit dem Messer und hält sich für einen Experten in Sachen »Sippenmord«. Und der Pusher schubst seine Opfer vor Autos oder Züge und macht sich anschließend schnell davon. Einzigartig und gefürchtet, aber auch gefragt in der Tokioter Unterwelt ist das Trio. Kann sich ein ehemaliger Mathelehrer mit eher schwach ausgebildeter Muskulatur gegen eine solche Killerelite durchsetzen? Kotaro Isaka, der schon in Bullet Train ein halbes Dutzend Auftragsmörder im Shinkansen zwischen Tokio und Kyoto aufeinanderhetzte, macht auch in Suzukis Rache keine halben Sachen und lässt ordentlich die Fetzen fliegen. Von DIETMAR JACOBSEN

Die Heiligen der Schattenbibel

Roman | Ian Rankin: Schlafende Hunde Nach seinem Intermezzo bei den Cold Case Units (Mädchengrab, 2013) ist John Rebus im neuen Roman von Ian Rankin zurück an seiner alten Wirkungsstätte. Allein rangmäßig ging es ein Stück bergab mit ihm. Als Detective Sergeant ist er plötzlich seinem einstigen Schützling Siobhan Clarke unterstellt. Doch mit der kommt er klar. Dagegen machen es ihm Dienststellenleiter Page und der von Generalstaatsanwältin Macari auf eine Gruppe von ehemaligen Polizisten angesetzte interne Ermittler Malcolm Fox erheblich schwerer. Denn Rebus war ein Teil jener verschworenen Gemeinschaft, die sich den Namen »Die Heiligen der Schattenbibel« gegeben hatte. Von

Anders und doch ähnlich

Roman | Maxim Biller: Mama Odessa

»Im Mai 1987 – ich war erst sechsundzwanzig Jahre alt – schrieb mir meine Mutter auf einer alten russischen Schreibmaschine einen Brief, den sie nie abschickte.« Mit diesem Satz eröffnet Maxim Biller seinen äußerst facettenreichen, stark autobiografischen Roman Mama Odessa, der um eine komplizierte, aber liebevolle Mutter-Sohn-Beziehung und um das Gefühl des Fremdseins kreist. Von PETER MOHR