//

Heißer Wettlauf auf kaltem Eis

Sachbuch | Michael Smith: Der stille Held

Wenn man schon einmal Bücher, Reportagen oder Dokumentationen über Amundsen, Scott und Shackleton, die Expeditionen zu den Polen vor über 100 Jahren gelesen hat, dann, salopp gesagt, reißt einen dieses Buch nicht mehr unbedingt vom Hocker. Aber: es ist das Porträt eines Mannes, der bei drei Expeditionen zum Südpol mit dabei war, der viel erreicht, geleistet und erlitten hat und dennoch immer eine Hintergrundfigur blieb. Schon allein diese persönliche Perspektive lohnt die Lektüre, meint BARBARA WEGMANN.

Das Buchcover zeigt ein Porträtfoto von Tom CreanThomas Crean wird 1877 in Irland geboren, neun Geschwister hat er, die Familie ist arm, leidet unter den Folgen der Hungersnot. Mit 16 geht er zur Royal Navy, und stößt nach mehreren Ausbildungsschritten 1901 zur Besatzung der Discovery-Expedition. Crean ist vom Pol-Fieber infiziert. Die Expeditionen sollen seinem Leben »einen Sinn und eine Richtung« geben. Auszeichnungen erhält er, gelobt wird er es bei Freunden und Vorgesetzten. »Ein ausgezeichneter Mann, groß gewachsen und an den Duke von Wellington erinnernd. Bei allen beliebt.«

»Der Neujahrsmorgen begann mit gutem Wetter und ließ mich an die Lieben daheim denken, die gut 25.000 Kilometer entfernt sind. Wir befinden uns so weit im Süden, wie seit einem Jahrhundert kein Schiff mehr und fernab jeglicher Zivilisation. Wann wir zurückkehren, steht in den Sternen. Hoffen wir das Beste.«

Dies allerdings ist kein Zitat aus einem Brief oder Tagebuch, das Crean schrieb, es ist die Beschreibung des Schiffzimmermanns Duncan. Und hier beginnt eines der Probleme des Buches: ja, es ist eine sehr fleißige und umfangreiche, fast penible Daten- und Detailsammlung zur Person des Crean, zu seinem Charakter, seinen Plänen und Absichten, aber es gibt wenige wirkliche Quellen. Der eine hat gehört, was der Andere sagte. Da sind überlieferte Briefe der Kameraden, Tagebücher; Aufzeichnungen werden gedeutet, es werden Bezüge hergestellt, Vieles erscheint logisch, Vieles sind Mutmaßungen.

Crean ist Teil der Crew, also trifft auf ihn natürlich all das meist auch zu, wovon seine Kameraden berichten. Er selbst ist ein bescheidener, zurückhaltender, liebenswerter junger Mann, der von allen als sehr sympathisch und freundlich beschrieben wird. Gut gelaunt soll er stets gewesen sein, verlässlich, Pfeife hat er geraucht. Er wurde für Scott fast zum Partner während der Expedition, hätte da nicht die strenge britische Hierarchie-Herrschaft das Regiment geführt. Fotos gibt es nur sehr wenige.

Das zweite Problem: Michael Smith, Brite und Journalist, kennt sich zwar in Materie und Geschichte bestens aus, aber: Leider schreibt er sehr trocken, sehr detailliert, sehr sezierend, und derart ins Detail gehend, dass man sich an vielen Stellen einfach verliert und dann den alten Faden sucht. Das, was doch eigentlich eine unendlich faszinierende Geschichte und, verbunden mit dem Porträt eines Einzelnen, eine fesselnde Lebensgeschichte sein müsste, wird zur fast klinisch sterilen und trockenen Angelegenheit. Stellenweise sinkt das Lesevergnügen auf antarktische Temperaturen.

Durchhalten ist aber angesagt, denn: Ein wenig gibt Smiths Erzählweise dann doch schließlich der Begeisterung, den packenden Schilderungen Raum, lässt die Figur des Crean doch runder und zunehmend plastischer werden. Höhepunkt ist sicherlich Creans »spektakulärer Alleinmarsch durch die Eiswüste«, auf dem er sein und das Leben seiner Kameraden rettet. Zu Highlights während der Lektüre werden jene Erkundungen im Eis, der Aufbau der Lager, der Transport aller benötigten Dinge, die unendlichen Strapazen, die Gefahren für die oft »blutigen Anfänger«, die unvorstellbaren Temperaturen um Minus 50 Grad, die Not, der Hunger, das Eingeschlossensein im Eis, das Fernsein von jeglicher Zivilisation. Und immer ist da der Heißhunger aufs Ziel: als Erster etwas erreichen, als Erster am Südpol stehen.

Creans Fieber für Expeditionen und weite Reisen ebbt aber ab, er lehnt weitere Angebote für Expeditionen ab, auch Shackleton kann ihn nicht mehr überzeugen. Er wird stattdessen Familienvater und eröffnet 1927 einen Pub. Nie gab er ein Interview über seine Erlebnisse, schrieb ein Buch, oder erzählte an der Theke von seinen dramatischen Erlebnissen. »Sein Ehrgeiz war nach drei Expeditionen zum Südpol befriedigt. In dieser Zeit hatte er mehr erlebt und erlitten, als sich ein Normalsterblicher auch nur vorstellen konnte, und nun beschränkte sich sein Streben darauf, ein Leben in Ruhe und Frieden zu führen.«

Das wirklich Schöne an dem Buch: Über all jene bekannten Forscher, Pol-Eroberer und waghalsigen Entdecker gibt es genug Lektüre. Hier, wenn eben auch in Teilen etwas zu sachlich, zu ausschweifend, aber doch das spannende Porträt eines Mannes, der zu den Kleinen an Bord gehörte und doch ein ganz Großer war.

| BARBARA WEGMANN

Titelangaben
Michael Smith: Der stille Held
Tom Crean. Überlebender der Antarktis
Hamburg: Mare Verlag 2021
464 Seiten, 26, 00 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Der Wolf im Schafspelz

Nächster Artikel

Moderne

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Ein zürnender Magier und Hohepriester der Sprache

Menschen | Jens Malte Fischer: Karl Kraus

Der Schriftsteller Elias Canetti, ein kritischer Anhänger von Karl Kraus, schrieb einmal über dessen Wirkung, er habe eine »Hetzmasse aus Intellektuellen« gebildet. Er sei der größte und strengste Mann, der heute in Wien lebe. DIETER KALTWASSER über die monumentale Karl-Kraus-Biografie von Jens Malte Fischer

Die Worte verführten mich

Menschen | Zum Tod des Schriftstellers Günter Kunert »Eines Tages, nach dem Krieg, lieh ich mir eine Schreibmaschine, um einen Brief zu schreiben. Da fiel mein Blick auf die große Kastanie im Hof, und ich stellte mir vor, dass die Äste bedrohlich wachsen und in die Zimmer ringsum eindringen. Plötzlich fing ich an, Zeile für Zeile untereinander zu schreiben, wie in Trance. Die Worte verführten mich! Von da an schrieb ich fast täglich«, erinnerte sich Günter Kunert an seine schriftstellerischen Anfänge zurück. Von PETER MOHR

Ekstatischer Pessimist

Menschen | Zum Tod des Literaturnobelpreisträgers Czeslaw Milosz

»Ich bin wie ein Sehender, doch selbst nicht vergänglich, /ein Luftgeist, trotz grauen Hauptes und Altersgebrechen«, heißt es in dem in diesem Jahr erschienenen Sammelband ›DAS und andere Gedichte‹ (Carl Hanser Verlag), in dem lyrische Arbeiten aus sechs Jahrzehnten versammelt sind und der einen repräsentativen Querschnitt durch das poetische Oeuvre des »ekstatischen Pessimisten« (so ein Selbstzeugnis) Czeslaw Milosz bietet. Von PETER MOHR

Enfant perdu

Menschen | Zum Tod von Lothar Baier

Zuletzt sollte er in der Werkausgabe Jean Améry dessen beide großen Essays »Über das Altern« und »Hand an sich legen« herausgeben. Nun erfahren wir, dass Lothar Baier in Montreal selbst »Hand an sich gelegt« und den »Freitod« gewählt hat. Von WOLFRAM SCHÜTTE

Chronist des Schreckens

Menschen | Zum 125. Geburtstag des Autors Theodor Plievier Der Name Theodor Plievier und sein 1945 erschienener Roman ›Stalingrad‹ werden in der deutschen Literaturgeschichte nahezu als Synonyme behandelt. Dieser vehemente Anti-Kriegsroman wurde in 30 Sprachen übersetzt, erreichte Millionenauflagen und brachte seinem Autor ungeheure Popularität ein. PETER MOHR zum 125. Geburtstag von ›Stalingrad‹-Autor Theodor Plievier am 12. Februar