»Schreiben ist kein Beruf. Heute nicht mehr. Die Sprache ist zersplittert, das müsste man doch wissen. Robert Musil hat das vollkommen durchschaut. Aber die meisten schreiben rasch chronologisch und unaufmerksam vor sich hin«, argwöhnte Ilse Aichinger in einem Interview mit der ›Zeit‹ anlässlich ihres 75. Geburtstages. Von PETER MOHR
Ilse Aichinger, das war einerseits die hochbegabte Autorin, die mit ihren frühen Werken Kritiker, Wissenschaftler und Leser gleichermaßen zu euphorischen Lobeshymnen inspirierte, andererseits blieb sie (auch den vielen privaten Schicksalsschlägen geschuldet) ein respektables Alterswerk schuldig und lebte viele Jahre zurückgezogen in Wien.
Pünktlich zum 100. Geburtstag ist nun ein ebenso liebevoll wie kenntnisreich zusammengestellter Band unter dem Titel »ununterbrochen mit niemandem reden. Lektüren mit Ilse Aichinger« von Thomas Wild erschienen. Und den ersten Satz darf man sogleich als wohlmeinende Aufforderung verstehen: »Dieses Buch möchte eine Einladung aussprechen: zum Lesen.«
»Ich wollte nie Schriftstellerin werden. Ich wollte Ärztin werden, das ist gescheitert an meiner Ungeschicklichkeit. Ich wollte zunächst eigentlich nur einen Bericht über die Kriegszeit schreiben. An ein Buch habe ich gar nicht gedacht, ich wollte nur alles so genau wie möglich festhalten. Als das Buch ›Die größere Hoffnung‹ dann bei Fischer erschienen ist, stand noch immer viel zu viel drin. Ich wollte am liebsten alles in einem Satz sagen, nicht in zwanzig«, hatte die Wiener Autorin Mitte der 1990er Jahre in einem Interview quasi ihr Hauptwerk selbst etwas demontiert.
Ilse Aichinger, die am 1. November 1921 in Wien als Tochter eines Lehrers und einer jüdischen Ärztin geboren wurde, hatte unter dem Stigma des »Mischlingskindes« erheblich zu leiden. Nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland lebte sie völlig isoliert von der Öffentlichkeit, das angestrebte Medizinstudium wurde ihr verwehrt, und sie musste miterleben, wie viele nahe Verwandte von der Gestapo deportiert und später ermordet wurden. Ihre Zwillingsschwester Helga war frühzeitig nach London geflüchtet.
»Eines Tages meldete sich bei uns, auf Empfehlung des Wiener Kritikers Hans Weigel, ein bildschönes, dunkelhaariges Mädchen, krampfhaft ein Papierbündel unter dem Arm haltend.« So erinnerte sich der Verleger Gottfried Bermann-Fischer an seine erste Begegnung mit der jungen Ilse Aichinger. Hinter dem »Papierbündel«, das die Autorin beim Treffen 1947 in Wien mit sich trug, verbarg sich das Manuskript ihres bis heute einzigen Romans ›Die größere Hoffnung‹, der ein Jahr später bei Fischer publiziert wurde.
Ein Buch zwischen Hoffen und Bangen, das um das Schicksal eines jüdischen Mädchens während der Nazi-Zeit kreist. In ihrem literarischen Debütwerk (zuvor war lediglich die Geschichte ›Das vierte Tor‹ am 1. September 1945 im Wiener »Kurier« erschienen) hat Ilse Aichinger nicht zuletzt ihre eigene bewegte Kindheit – leicht verfremdet – aufgearbeitet und gleichermaßen subjektive, wie kollektive literarische Trauerarbeit geleistet.
Die schlimmen Erfahrungen aus Kindheit und Jugend haben sich nachhaltig auf die späteren literarischen Werke ausgewirkt. »Vielleicht schreibe ich nur deshalb, weil ich keine bessere Möglichkeit zu schweigen sehe«, hatte Ilse Aichinger 1971 bei der Verleihung des Nelly-Sachs-Preises erklärt.
Der literarische Durchbruch war ihr 1952 gelungen, als sie auf der Tagung der legendären Gruppe 47 nach der Lesung ihrer ›Spiegelgeschichte‹ frenetisch gefeiert und als Nachfolgerin von Heinrich Böll und ihres späteren Ehemannes Günter Eich als dritte Preisträgerin der »meinungsbildenden« Elitegilde gekürt wurde.
Die radikale Verknappung der Texte, die beinahe lakonische Sprache und der sezierende Blick hinter die Fassaden menschlicher Antlitze prägten die Aichingerschen Werke. Das passt vorzüglich zu den Lektürevorlieben der Schriftstellerin: »Ich lese immer wieder Joseph Conrad. Obwohl mich weder die Gegenden noch die Handlungen seiner Romane im geringsten interessieren. Aber es ist für mich eine solche Faszination, dass da kein einziger unnützer Satz steht.«
Hartnäckig hat Ilse Aichinger, die 1995 den Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur und 2000 den Joseph-Breitbach-Preis erhielt, allen literarischen Trendwenden die kalte Schulter gezeigt.
Respektable Erfolge hatte sie mit ihren zahlreichen Hörspielen, die ihr (und ihrem 1972 verstorbenen Ehemann Günter Eich) das materielle Überleben sicherten. Nach dem Unfalltod ihres ebenfalls als Schriftsteller tätigen Sohnes Clemens Eich im Februar 1998 hatte sich die Autorin aus der literarischen Öffentlichkeit fast völlig zurückgezogen.
»Ich kann dort schreiben, ich kann machen, was ich will und bin dort ein Stück des Hauses.« So beschrieb Ilse Aichinger ihr Wiener Stammcafé Demel am Michaelerplatz, das sie über viele Jahre fast täglich aufsuchte und in dem die kleinen Feuilletons ihres letzten Buches ›Unglaubwürdige Reisen‹ (2005) entstanden sind.
»Alles Komische hilft mir und macht mich glücklich. Im Kino und überall«, erklärte die leidenschaftliche Cineastin. Ihre häufigen Kinobesuche dienten aber auch dazu, um die »Zeit totzuschlagen, weil mir das Leben schon viel zu lange dauert«, hatte Ilse Aichinger erklärt, als die neunzig bereits überschritten hatte. Am 11. November 2016 ist die liebenswerte Einzelgängerin, die absolut singuläre Dichterin in ihrer Heimatstadt Wien im Alter von 95 Jahren gestorben.
Zwei Jahre nach ihrem Tod wurde in Wien-Donaustadt – im Dunstkreis der Doris-Lessing-Allee – die Ilse-Aichinger-Gasse nach ihr benannt.
Lesetipp
Thomas Wild: ununterbrochen mit niemandem reden
Lektüren mit Ilse Aichinger
Frankfurt: S. Fischer Verlag 2021
368 Seiten, 28 Euro
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