//

Im Überfluss

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Im Überfluß

Ob es Feigheit sei, fragte sich Thimbleman.

Eldin legte einen Scheit Holz nach, die Flammen schlugen hoch.

Der Ausguck schälte sich aus der Dunkelheit und setzte sich neben Thimbleman.

Die späte Moderne sieht bedrohlichen Zeiten entgegen, sagte Crockeye, wer hätte da keine Angst.

Der Panikmodus greift um sich, sagte Rostock.

Nicht unser Problem, sagte Bildoon, unser Thema ist die Verwahrlosung der Stadt, die Gesetzlosigkeit, die Flut der Goldgräber.

Und ebenso wenig handle es sich um unsere Zeit, ergänzte Harmat, die späte Moderne liege weit in der Zukunft, sie muß unsere Sorge nicht sein.

Wir sitzen fest in dieser Lagune der Baja California, einige Verwundungen sind nicht ausgeheilt, das ist unser Problem, konstatierte McAlister, der Grauwal tummelt sich und genießt die Fangpause.

Der Teufelsfisch lacht uns aus, sagte der Zwilling.

Frühe Industrialisierung, sagte Gramner, die Dampfschiffahrt setzt sich durch gegen die Windjammer, die Gier nach Mammon nimmt überhand, das ist unsere Zeit, und es wäre höchst angebracht, einzugreifen, versteht ihr, jetzt einem Geschehen Zügel anzulegen, das aus dem Ruder läuft.

Ob das in der Moderne zu spät wäre, fragte Thimbleman.

Man müsse den Anfängen wehren, sagte Crockeye, sofern man nicht in Kauf nehmen wolle, daß der Mensch das Leben auf diesem Planeten zugrunde richte.

Die Zivilisation des Maschinenwesens breite sich aus, sagte Gramner, unaufhaltsam, der Mensch habe sie heraufbeschworen und drohe ihr zum Opfer zu fallen, ihren ständig neu geschaffenen Technologien – das Maschinenwesen sei dünnhäutig, ununterbrochen im Wachstum begriffen, instabil, ein fragiles Gebilde, Unmengen von Energie verzehrend, gefräßig, ein kannibalistisches Ungeheuer.

Sut lächelte.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer, die Flammen schlugen hoch, der Ausguck erschrak.

Termoth räusperte sich. Der Mensch werde sich gezwungen sehen, neu zu denken, sagte er, er müsse seine Augen öffnen für die dämonischen Kräfte, die von den Abläufen Besitz ergreifen, für die destruktiven Energien, die sich in fröhlich bunte Gewänder kleiden, breit lächelnd Optimismus und gute Laune verbreiten, die selbstverständlich digital kommunizieren, keine Frage, doch der Mensch werde irregeführt, er müsse seine Augen öffnen, sagte Termoth, für die verführerischen Gewänder und den falschen Glanz, in denen die dämonischen Kräfte aufträten, er müsse die täuschenden Schleier identifizieren und die vielerlei Dinge einander zuordnen, denn alles sei miteinander verbunden.

Schwierig, sagte Rostock.

Man dürfe den Menschen nicht überfordern, sagte McAlister, denn im Grunde sei er zufrieden mit den neuen Technologien, auch sei die Eisenbahn eine bedeutende Errungenschaft, sie werde die Ostküste mit dem Pazifik verbinden.

Das Dampfroß ersetze die natürliche Pferdestärke, sagte Thimbleman.

Es verbreite Lärm und Gestank, wandte Rostock ein.

Das Reisen sei unvergleichlich komfortabel, widersprach der Zwilling.

Zu viel, sagte Gramner, der Mensch verlange zu viel, ein Fahrrad sei indiskutabel, ein Pferd bereite nur Umstände, das Reisen im Zug genüge ihm nicht, er wolle individuell reisen, er konstruiere das Automobil, und weil ihn das nicht schnell genug befördere, benötige er das Flugzeug, das ihn von Kontinent zu Kontinent trage – die Dinge überstürzten einander, die Eskalation finde kein Ende, Satelliten kreisten im Weltraum, und der Mensch gebe sich der Willkür des Marktes anheim, der umtriebigen Geschäftigkeit, er füge sich in die Konkurrenz der vielen Verkehrsmittel und halte es ungeachtet der schädlichen Folgen nicht für erforderlich, mäßigend einzugreifen, die Umstände selbst zu gestalten.

Du findest dieselben Muster überall wieder, sagte London.

In der Kommunikation, sagte Gramner, fielen Briefe und Karten völlig aus der Welt, das Telefon, soweit es das Netz angeht, sei verpönt, man nutze sein Mobiltelefon, sende einander Fotografien, schreibe einander Textnachrichten als e-mail oder per sms, man skype, man tausche seine Ansichten in den sogenannten sozialen Netzwerken, es herrsche mediales Überangebot, eine betäubende Geschwätzigkeit breite sich aus, ein Panikmodus, unter dem jede Vernunft, jede nachdenkliche Rede erstickt werde.

Ein Kulturkampf, sagte London.

Absolut, sagte der Zwilling, die Strukturen seien mörderisch.

Aug‘ um Auge, Zahn um Zahn, schloß Crockeye, und keine Chance für niemanden, sagte er, sie würden untergehen mit Mann und Maus.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Keine Liebe ist es nicht gewesen

Nächster Artikel

Zum Staunen

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Farb

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Farb

Die Tage vergingen, als wäre nichts geschehen, als wäre Farb noch präsent, als wäre alles wie gehabt, nach dem Frühstück bevölkerte sich der mit einer mannshohen Plane umsäumte Strandabschnitt, die Dänen trafen wie üblich gegen halb zehn von ›Cesar's Palace‹ ein und besetzten ihre Liegen neben dem massiven Felsblock.

Titanen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Titanen

Leidenschaftlich, erklärte Annika, ja, sie fotografiere leidenschaftlich, und schenkte Tee in die zierlichen Tassen mit dem Drachenmotiv, Yin Zhen, eineinviertel Minute, maximal anderthalb.

Farb schwieg.

Tilman lehnte sich zurück und genoß die sommerlichen Temperaturen, er trug ein kurzärmeliges, groß geblümtes, farbenfrohes Hemd.

Für ihr Projekt sei sie mehrmals die Strecke Hamburg-Berlin gefahren.

Mit der Bahn?

Sicher, mit der Bahn, ergänzte sie, und sie fotografiere ihre Motive durch das Fenster. Sie faßte zu dem winzigen blauen Buch, das sie als Clip an ihrem Ohrläppchen trug.

Aus dem fahrenden Zug?

Schwermut

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Schwermut

Die Worte wechseln, doch real ändere sich null, ob nun Trübsinn, ob Weltschmerz, ob Melancholie.

Seit mehreren Jahrzehnten behaupte sich Depression, gelegentlich auch burn out, doch burn out, so werde erklärt, sei graduell anders gewichtet, und letztlich wisse niemand Bescheid, unter welchem Namen auch immer.

Auf den einzelnen Fall komme es an, laute eine Standardfloskel, die Beziehung zwischen Arzt und Patient müsse stimmen, manch einer suche jahrelang nach einem passenden Psychiater und Therapeuten, und eine einheitliche Symptomreihe, die lediglich abzuhaken wäre, die gäbe es nicht.

PETM

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: PETM

Auch der Einbruch der Eiszeit habe die Anzahl der Lebewesen drastisch reduziert, sagte Anne, immer wieder gebe es Brüche, die die Dinge durcheinanderwerfen, daß man nichts wiedererkenne.

Das Paläozän/Eozän-Temperaturmaximum müsse ein extrem tiefgreifender Bruch gewesen sein, sagte Tilman, es werde von der Forschung auf etwa 55,8 Millionen Jahre vor unserer Zeit datiert, habe sich über rund zweihunderttausend Jahre hingezogen und sei, gemessen an der Erdgeschichte, dennoch eine flüchtige Phase gewesen, die man ignorieren könnte, wären ihre Auswirkungen nicht so verheerend gewesen.

Für den Menschen sind zweihunderttausend Jahre eine endlos lange Zeit, sagte Anne und lächelte. Sie legte sich eine Pflaumenschnitte auf und schenkte Tee nach.

Tilman nahm einen Löffel Schlagsahne, es war ein angenehmer Sommmertag.

Blind

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Blind

Wie Teiresias sich zu leben vorgestellt hätte, wissen wir nicht, er hatte ja keine Wahl, so war das, genau so, ihm wurden enge Grenzen gezogen und harte Pflichten auferlegt, die, so darf zurecht vermutet werden, sich im Endeffekt jedesmal als beschwerlich erwiesen, als ein undankbares Geschäft, man kennt das, er enthüllte Wahrheiten, die den Lebenswandel vieler Mitmenschen als Lüge entlarvten, als einen törichten Selbstbetrug um so mancher bequemen Gewohnheit willen.