Mystische Erscheinungen oder reale Lebewesen?

Sachbuch | Heinz-Ulrich Reyer: Rendezvous der Fabelwesen

Einmal quer durch die Zeitgeschichte: ein fantastisch buntes Bild über Fabelwesen und außergewöhnliche Geschöpfe wie Einhörner oder Drachen und Werwölfe, Mischwesen, halb Mensch, halb Tier, immer schon erregten sie Aufmerksamkeit, Schauder und Respekt. Das Buch präsentiert spannende 360 Seiten, ein ausgiebiger Überblick, nicht ganz preiswert, aber gruselig- lohnend, meint BARBARA WEGMANN.

Das Buchcover zeigt die Zeichnung eines EinhornsOb es die Großen oder die Kleinen sind, Fabelwesen, Mischwesen oder sonstige »seltsame Kreaturen«, sie haben schon immer fasziniert, erregen auch heute noch Grusel und Interesse gleichermaßen. In alten Mythen, Sagen, in Religionen und alten Märchen tauchen sie immer wieder auf, jene Wesen, die weder bekanntes Tier, noch Mensch sind, oftmals sind sie beides, Mensch und Tier, wie in der griechischen Mythologie. Waren die 12 Hauptgottheiten auf dem Olymp von »rein menschlicher Gestalt«, jedenfalls im Großen und Ganzen, so erzählt Heinz-Ulrich Reyer, so finden sich in »den unteren Rängen« schon ganz andere Wesen: »Zum Gefolge von Dionysos … gehörten die Satyrn, menschenähnliche Gestalten mit Füßen, Schweif und manchmal auch mit Ohren von Pferden und Eseln, sowie der Hirtengott Pan mit dem Oberkörper eines Menschen und dem Unterleib eines Ziegenbocks.« Da Ziegenböcke als besonders lüstern galten, so Reyer, gelte Pan als Sinnbild für Ausschweifungen und lasterhaftes Verhalten. Fabelwesen als Projektionsfläche für Eigenschaften, Wünsche, Verbote, Ideale.

Reyers Forschungsschwerpunkt war die Evolutionsbiologie. Der studierte Biologe und zuletzt Professor für Zoologie an der Universität Zürich präsentiert ein wirklich nicht nur sehr lesenswertes, sondern auch für Laien gut verständliches und geradezu unterhaltsames Buch. Es sind Geschichten und Ausflüge in mythische Welten, auch in die von Ganesha beispielsweise.
Ganesha, »von Hinduisten und Buddhisten gleichermaßen verehrte Gottheit« gehört ins Reich der Mythen, dieses dickleibige muntere Wesen mit einem Elefantenkopf, Sinnbild für Glück, Intelligenz und Weisheit. »Ob Einschulung, Examen, Geschäftsabschluss oder Eheschließung- es gibt fast kein Ritual, bei dem Ganesha nicht vorher angerufen wird.« Mythische Wesen als Alltagshilfe sozusagen.

Natürlich haben all diese Wesen ihr Zuhause im Bereich der Mythen, oder vielleicht ja doch nicht? Reyers sehr, sehr detailreich recherchiertes Buch lässt den Leser nicht ohne lehrreiche Spannung und in kribbelnder Ungewissheit: da gibt es beispielsweise den Tatzelwurm, 50- 200 cm lang, wie vermeintliche Augenzeugen berichteten. »Trotz ihrer geringen Größe sollten Tatzelwürmer äußerst gefährlich sein, vor allem für Menschen, die allein in den Bergen unterwegs sind … Als besondere Delikatesse sollen den Monstern hübsche jungfräuliche Sennerinnen gelten.« Selbst im 21. Jahrhundert, so der Autor, lägen noch 40 angebliche Tatzelwurm-Sichtungen vor, die meisten aus Norditalien.

Ob es der Yeti ist, Bigfoot, ob schillernde Meeresungeheuer, Dracula oder sonstige Bestien, ihre Geschichte zu lesen, jeweils kurze Kapitel, eingebunden in eine bunte Illustration, das macht schon gruseligen Spaß und man kann sich so manche Angst einflößende Geschichte vorstellen, die abends am Lagerfeuer oder zu Hause am Kamin erzählt wurde. Fabelwesen konnten die Menschen ganz schön in Schach halten.

Fantasiereich sind die Geschichten, oft ewig aktuell: So sind Einhörner beispielsweise, aus der Welt des Kinderspielzeugs nicht wegzudenken. Aber das Einhorn hatte eine ganz andere Geschichte: ein seltsames und seltenes Tier, bei dem die Ähnlichkeit des Horns mit einem Phallus verglichen wird. »In Gemälden, in denen das Einhorn wie ein Liebhaber im Schoß einer Jungfrau liegt, ist der sexuelle Bezug offensichtlich.« Diesen »erotischen Missbrauch« so Reyer, habe die katholische Kirche nicht mehr geduldet, deshalb seien unkeusche Darstellungen verboten worden. »Damit verschwand das Tier zwar weitgehend aus der christlichen Symbolik, blieb aber in der Kunst, der Heraldik, der Medizin und in anderen weltlichen Bereichen erhalten.«

Reyers abschließende Frage, mit der er den Leser aus einem tollen Buch entlässt, hat allerdings nur wenig mit Mystik, Märchen, Religionen oder Symbolik zu tun: »Könnte manch seltsame Gestalt, die heute keine biologische Entsprechung findet, irgendwann einmal existieren?« Evolution ist ein Prozess, der nie enden wird, wer weiß das also schon.

| BARBARA WEGMANN

Titelangaben
Heinz-Ulrich Reyer: Rendezvous der Fabelwesen
Drache, Einhorn& Co zwischen Mythos und Wirklichkeit
Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt
360 Seiten, 50 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Über die Wichtigkeit von Freunden

Nächster Artikel

Aus dem Leben außergewöhnlicher Frauen

Weitere Artikel der Kategorie »Sachbuch«

Schnee, was war das doch gleich?

Sachbuch | Peter Mathis: Schnee

Schneeflöckchen, es tut sich schwer seit Jahren, macht sich rar, aber Sehnsucht, Erinnerung und Wunsch nach Schnee, weißer Weihnacht und märchenhafter Landschaft verblassen bei uns keineswegs. Das Feuer für diese Sehnsucht nach kaltem Weiß schürt jetzt Peter Mathis kräftig mit seinem atemberaubenden Bildband. Vielfach ausgezeichnet wurde der österreichische Fotograf, unter anderem mit dem Titel »Master of European Photography«. BARBARA WEGMANN hat sich in eiskalte Foto-Landschaften begeben.

Nährboden des braunen Terrors

Sachbuch | Manfred Gailus / Daniel Siemens: Horst Wessel Wer je vom Nazistaat gehört hat, kennt den Namen Horst Wessel. Den einen fällt das von ihm getextete, nach ihm benannte SA-Kampflied (Die Fahne hoch!) ein. Andere haben Bilder von notorischer Randale zwischen Rechten und Linken im Hinterkopf, die Ende der 20er Jahre auf Berliner Straßen öfter auch mal tödlich ausging. Von Goebbels zum multimedial orchestrierten Mythos verklärt, war Wessel nach 1945 Objekt kompletter Verdrängung oder neonazistischer Begierden, aber kaum der seriösen Forschung. Von PIEKE BIERMANN

Erneuerte Demokratie durch Widerstand

Gesellschaft | Costas Douzinas: Philosophie und Widerstand in der Krise Da sind wir an der Quelle, möchte man ausrufen, endlich! Und würde selbst einigermaßen verblüfft rückfragen, um welche Quelle es sich denn handle. Quelle Europas? Quell des Ärgers? Quelle der Nachlässigkeit? Quell der Besinnung? Quelle einer neuen Gemeinsamkeit? Schon gut, wir nehmen zur Kenntnis, dass sich mit Costas Douzinas ein gebürtiger Grieche in die Auseinandersetzung um die Integration Europas einschaltet, warum sollte er nicht, das war längst an der Zeit. Nein, besonders viele ins Deutsche übertragene Beiträge von Griechen liegen dazu bislang nicht vor. Von WOLF SENFF

Synaptische Turbulenzen

Kulturbuch | Olivia Laing: Zum Fluss

Immer wieder ›Zum Fluss‹ zieht es Olivia Laing. Ihre einwöchige Wanderung entlang der Ouse, von der Quelle bis zur Mündung, gibt Anlass zu geologischen und geographischen Erkundungen, zu poetischen, philosophischen und literarischen Betrachtungen. Ein ausschweifender, viele Sinne streifender Genuss für alle Freunde des »Nature Writing«. Zugleich ein sehr persönliches Buch, das dem Leser die Augen öffnet und die Sinne schärft. Von INGEBORG JAISER

Staunen und Schrecken der Welt

Menschen | Olaf B. Rader: Friedrich II Kein deutscher Kaiser hat mehr nachdenkendes Interesse hinterlassen, als der letzte Stauferkaiser, Friedrich II., der »Schwabe« in Sizilien, wo er auch – im Dom von Palermo – begraben ist. In Jesi, der Weinstadt in den italienischen Marken, wurde er 1194 geboren (auf einem öffentlichen Platz, behauptet man dort noch heute stolz). Vier Jahre später wurde das Kind zum König von Sizilien, mit siebzehn (1211/12) immerhin schon zum deutschen König und von 1220 bis zu seinem Tod 1250 war er Kaiser des Heiligen Römischen Reichs. Von WOLFRAM SCHÜTTE