/

Never Ending Tour

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Never Ending Tour

Er redet viel, und manches, da kannst du sicher sein, ist blanker Unsinn, weit hergeholt, verstehst du, Quatsch mit Soße.

Er hält es für unumgänglich, Berge zu versetzen, die Welt aus den Angeln zu heben.

Eine blühende Phantasie.

Wenigstens unterhält er die Mannschaft, er überbrückt die Fangpause, und jeder schätzt ihn.

Mag ja sein, gut, es ist oft genug doch etwas dran an den Geschichten, die er erzählt, sie haben Hand und Fuß.

Wer weiß das schon.

Diesmal?

Leichen ausgraben? Gräber plündern?

Eine Ewigkeit her, sagt er selbst.

Die achtzehnte Dynastie.

Tut-ench-Amun.

Wenn der geahnt hätte, was mit seinem mumifizierten Leichnam geschieht. So, Thimbleman, hatte sich der Pharao das nicht gedacht, sagte der Ausguck, stand auf, nahm drei Schritt Anlauf und schlug einen Salto.

Wann, sagt Gramner, sei das Grab entdeckt worden?

Im frühen zwanzigsten Jahrhundert. Drei Jahrtausende, sagt er, sei es tief unter der Erde verborgen geblieben, kein Grabräuber hatte einen Zugang gefunden – doch die Epoche, die der Mensch so selbstverliebt als Moderne bezeichnet, als Neuzeit gar, schreckt vor nichts zurück. Daß der Mensch seine eigene Vergangenheit respektieren würde? Kein Gedanke daran, nein, alles wird ans grelle Licht gezerrt.

Die Moderne eignet sich die Vergangenheit an, verstehst du, Ausguck, da kennt sie nichts, sie nimmt keine Rücksicht, Scham ist ihr fremd. Die Totenmaske des Pharao wird quer über den Planeten präsentiert, eine Never Ending Tour, eine Ausstellung, ein Event mit mehr als hundertfünfzig Objekten, eine spektakuläre Eröffnung in Los Angeles, dann 1,42 Millionen Besucher in Paris, der Mensch sonnt sich unter den Überbleibseln seiner vergangenen Zeiten, ist er nicht ein einzigartiges Geschöpf, Protz, Prunk, Selbstdarstellung, anschließend geht sie nach London, eine Metropole nach der anderen wird bedient.

Der Ausguck streckte sich im warmen Sand, er fühlte sich erschöpft, obgleich er den gesamten Tag über keinen Finger gerührt hatte.

Der Mensch ist außer Rand und Band, Ausguck, er präsentiert sich als Herrscher über die Vergangenheit, er hat sie vereinnahmt, hat sie kolonisiert, nun konsumiert er ihre Früchte, er arrangiert einen Triumphzug, und lückenlos über den Planeten verteilt führt er sich die erbeuteten Preziosen vor, er trägt die Krone der Schöpfung.

Der Ausguck war nur froh, nicht in jenen fernen Zeiten leben zu müssen. Er stand auf, nahm wie üblich drei Schritt Anlauf und schlug einen Salto. Es gab weiterhin nichts zu tun, die ›Boston‹ lag einige hundert Meter entfernt vor Anker, nichts regte sich, die Zeit schien stillzustehen.

Nein, Ausguck, dadurch wird die alte ägyptische Kultur in ihr Gegenteil verkehrt, eine Tournee ist anmaßend, sie zeugt von Unverständnis für die Jahrtausende, in denen die ägyptische Gesellschaft stets bedacht war, den Pharaonen einen angenehmen und störungsfreien Aufenthalt in der Nekropole zu gewähren. Nein, Ausguck, eine solche Zukunft ist mir fremd, sie wird es bleiben und ebenso der Mensch, der in jener Zukunft lebt, man muß die Dinge auch einmal ruhen lassen.

Was ist das, die Zukunft? Was geht sie uns an? Wenn Gramner recht hat, stehen dem Menschen zwei oder drei Jahrhunderte der Industrialisierung bevor, er wird mit seinen technologischen Revolutionen triumphieren, sich aber ihr desaströses Scheitern nicht erklären können, da ist es ohne Sinn und Verstand, eingreifen zu wollen, in seiner Gier und seinem Rausch wird er unbelehrbar bleiben, er verrennt sich, er sieht sich nach Sternen greifen, will den Mars besiedeln und käme im Traum nicht auf die Idee, daß daran etwas falsch sein sollte.

Die ägyptische Kultur sei, so sagt es Gramner, grundlegend anders gewesen. Fortschritt und Wachstum seien ihr fremd gewesen, ihr sei es darauf angekommen, Abläufe in der Balance zu halten, durch Rituale neue Kräfte und einen Sinn zu verleihen – da, sagt Gramner, liege für sie der Inhalt menschlicher Existenz.

Die Moderne, mein Freund, sähe ihren Sinn darin, menschliche Gier auszuleben, ungehemmt, in ekstatischem, rauschhaftem Dasein? Kennt weder Tabus noch Verbote? Deshalb die aggressive, blutrünstige Haltung? Deshalb die verheerenden Kriege?

So wird Gramner es sehen, Ausguck, ja. Der Planet selbst werde sich erheben, der Mensch laufe Gefahr, sang- und klanglos zugrunde zu gehen, und alles werde sein, als ob es ihn nie gegeben hätte.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Reise zum anderen Ich

Nächster Artikel

Ein regenbogenfarbiges Fest für die Sinne

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Farbe

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Farbe

Farbe ist ein durch das Auge vermittelter und durch das Gehirn aufbereiteter Sinneseindruck, durch Licht hervorgerufen, genauer: durch die Wahrnehmung elektromagnetischer Strahlung der Wellenlänge zwischen 380 und 780 Nanometern, las Sut, der Mensch, sagte er, zähle und messe, er nenne das Wissenschaft, sich selbst einen Homo Sapiens und könne vieles erklären.

Das Rauschen des Ozeans klang wie von ferne zur Ojo de Liebre herüber.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Der Ausguck stand auf, tat einige Schritte und löste sich in die Dunkelheit auf.

Streit

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Streit

Spannend, sagte Farb.

Die globale Architektur erweise sich als instabil, sagte Tilman, sie sei nicht länger tragfähig, die Gewichte hätten sich verlagert, eine neue Balance sei gefordert.

Wette lachte. Es gehe drunter und drüber, sagte er, ein Hauen und Stechen.

Wie das ausgehen solle, fragte Annika, man dürfe die Dinge nicht treiben lassen.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Unterhaltsam, sagte Wette, wenn Politiker vor laufenden Kameras streiten wie die Kesselflicker.

Harmonie

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Harmonie

Die titanischen Kräfte, aufgeschreckt, sagte Termoth, würden ihre Ruhezonen verlassen, es sei notwendig geworden, das Universum der Lebendigen neu zu arrangieren, denn das Maschinenwesen habe sich ausgebreitet, habe sein verheerendes Gift technologischer Innovationen gestreut und drohe nun das harmonische Gleichgewicht endgültig zu destabilisieren.

Titanische Kräfte, fragte Harmat.

Eine lange Geschichte, sagte Gramner.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Touste schlug Akkorde auf seiner Gitarre an.

LaBelle summte eine Melodie.

Der Ausguck erhob sich, tat einige Schritte und löste sich in der Dunkelheit auf.

Was hatte er dauernd mit seinem Salto, er tue sich wichtig, überlegte Crockeye.

Wie von ferne drang sanft das Rauschen des Ozeans bis zur Ojo de Liebre.

Vergebliches Streben nach Glück

Kurzprosa | George Saunders: Zehnter Dezember George Saunders‘ meisterhafte Kurzgeschichten wirken gleichzeitig authentisch und alltäglich wie surreal und absurd. Die eben erschienene Sammlung Zehnter Dezember könnte tatsächlich zum besten Buch des Jahres werden. Von INGEBORG JAISER

Landschaft II

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Landschaft II

Er sei neugierig geworden, sagte Farb, und habe selbst etwas über chinesische Landschaftsmalerei gelesen.

Annika lächelte. Lesen macht schlau, sagte sie und schenkte Tee nach, Yin Zhen.

Tilman blickte auf.

Sie habe sich unter der Tang-Zeit im siebten bis neunten Jahrhundert herausgebildet, sie habe ihre Blüte unter den Song und Yuan (10. Jh. bis 15. Jh.) erlebt, ihr Schwerpunkt habe sich seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts auf das Genre der Blumen und Vögel verlagert, und im neunzehnten Jahrhundert sei die große Landschaftsmalerei nach und nach erloschen.

Eine außergewöhnlich lange Zeit, sagte Annika.

Ihr Ende, so werde erklärt, sagte Farb, bilde den Verlust der Einheit von Natur und Kultur ab und, wenn man so wolle, ein Verschwinden der Welt überhaupt, es herrschen ungewöhnliche Zeiten.

Große Worte. sagte Annika.