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Gelöst

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Gelöst

Einschlafen, konstatierte Farb, sei eine komplizierte Materie.

Anne schenkte Tee nach, Yin Zhen, sah flüchtig auf das zierliche Drachendekor und stellte die Kanne zurück auf das Stövchen.

Tilman setzte sich aufrecht, zog die Arme an und bewegte die Schultern, ihn schmerzte der Nacken, die Sitzhaltung war denkbar unbequem, nicht allein in diesem Sessel, sondern die Hersteller schienen allgemein wenig Wert auf ergonomische Leitlinien zu legen, ihr Niveau ließ zu wünschen übrig, er überlegte, sich Massagen verschreiben zu lassen, der Mensch sei in jeglicher Hinsicht überspannt.

Kompliziert, knüpfte Farb an, und werde oft unterschätzt, er rede nicht davon, daß nach mehrstündigem Fernsehkonsum die Augen erschöpft zufielen, da könne von Einschlafen wohl nicht die Rede sein, denn nach kurzer Dauer schrecke man wieder auf und habe nun erst recht Mühe, einzuschlafen, genau, sagte Farb, man müsse die Dinge beim Wort nehmen.

Anne lächelte und griff nach einem Kipferl.

Tilman suchte eine schmerzfreie Sitzposition.

Ebenso könne nach Drogenkonsum nicht vom Einschlafen geredet werden, Farb lächelte, und Schlaftabletten dienten eher der Betäubung, dem Suizid gar, man merke, sagte er, einzuschlafen, das sei ein schwieriger Prozeß, und wer unbehelligt einschlafen wolle, müsse zuvor Hindernisse aus dem Weg räumen und Hürden bewältigen, das Einschlafen verlange Umsicht, verlange Sorgfalt, man müsse das Gewicht des Tages ablegen, und dessen Gewicht könne erdrückend sein.

Anne blätterte in ihrem Buch über klimatische Desaster, was war nur los hier, und war nicht vor wenigen Tagen die Erde vor Fukushima erneut heftig erschüttert worden, oh gewiß, der Planet spielte voller Inbrunst und Leidenschaft zum Tanz auf, er gab sein Bestes und lud mit formidablem Feuerwerk zum finalen Event ein.

Zum Beispiel, sagte Farb, sei es förderlich, am frühen Abend nicht zu essen, den Darm zu schonen, der Organismus solle sich entspannen, einzuschlafen verlange eine gewisse Leichtigkeit, du läßt die Dinge geschehen, die Lasten gleiten sämtlich zur Seite, deine Schultern werden frei, du liegst auf dem Rücken, fühlst dich behutsam balanciert von übermächtigen Schwingen, Ruhe umfaßt dich, die Zeit stockt, sie gerinnt, sie möchte stillstehen, sucht nach Zuflucht in der Nacht.

Du sperrst dich, du zögerst, der Tag klammert, er läßt dich nicht los, dieser und jener Gedanke drängen auf dich ein, eine flüchtige Episode ruft sich in Erinnerung, klar, sagte Farb, wer nähme gern Abschied, doch von vorn winkt dir lieblich der Schlaf zu, Stille verheißend und Ruhe, ein mitreißendes Angebot, du spürst die irdische Schwere weichen, noch einmal streckt sich der Tag nach dir aus, ein letztes Mal und voll zarter Sehnsucht, die Zeit jedoch stockt, sie gerinnt, sie möchte stillstehen, sucht nach Zuflucht in der Nacht, Schlaf dringt auf dich ein, breitet sich aus, darin zu versinken.

Anne las im Kapitel über das Insektensterben, mit halbem Ohr hörte sie Farb zu, der Schwund der Insekten, las sie, sei beträchtlich, es gäbe dringenden Handlungsbedarf, naturnaher Lebensraum sei durch die nach wie vor fortschreitende Intensivierung der Landwirtschaft gefährdet.

Tilman setzte sich aufrecht hin, zog die Arme an, bewegte die Schultern und wiederholte das mehrmals, um die Muskulatur zu lockern.

Farb rieb sich die Augen.

Draußen setzte Regen ein.

Tilman hatte sich entspannt zurückgelehnt. Ob nicht die Nacht, überlegte er, ein schwarzes Loch sei, und: Schwarze Löcher seien eines der geheimnisvollsten Phänomene des Universums, sie seien jedoch äußerst schwer aufzuspüren, weil sie das Licht einzögen.

Ob niemand Tee aufgießen wolle, fragte Anne.

Manchmal dämmere er im Halbschlaf dahin, sagte Farb, und sei dann oft gar nicht müde, sondern genieße die Ereignislosigkeit, die Tatenlosigkeit, das Nichtstun, in der Welt laufe viel aus dem Ruder.

Tilman lächelte und dachte darüber nach, Tee aufzugießen.

Einzuschlafen sei, als falle man in einen anderen Aggregatszustand, sagte Farb, ein Moment des Übergangs trete ein, wie wenn man ins Wasser abtauchen würde, und die Welt sei augenblicklich verwandelt, versteht ihr, daß man eben schlafe und die Umgebung und die Ereignisse liefen nicht weiter, aus, abgeschaltet, null, die Zeit habe aufgehört zu vergehen.

Anne warf ungeduldige Blicke zur Küche, wartete einige Sekunden ab, stand entnervt auf und ging Tee aufgießen.

Tilman suchte wieder eine schmerzfreie Sitzposition.

Den Halbschlaf genieße auch, sagte er, wer aufwache und noch von Träumen und vom Schlummer umfangen sei.

Anne schenkte Tee ein.

| WOLF SENFF

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