Nein, ganz und gar nicht, null, wehrte Tilman ab, er werde keineswegs darauf verzichten, die Kultur des alten Ägypten heranzuziehen, weshalb, wir müßten lernen, die Gegenwart aus gebührender Distanz wahrzunehmen, Distanz sei hilfreich.
Anne schenkte Tee nach.
Farb griff zu einem Keks.
Sich ausschließlich mit dieser Kultur zu befassen, wandte Farb ein, das werde auf Dauer eintönig.
Die drei Jahrtausende seien in höchst verschiedene Abschnitte unterteilt, in drei Reiche mit jeweils Zwischenzeiten, einer Spätzeit und einigen Jahrzehnten, von denen wir heute wohl sagen würden, das Land habe unter fremder Herrschaft gestanden, es sei besetzt gewesen.
Klingt kompliziert und höchst lebendig.
Interessant, sagte Anne, und ob man daraus lernen könne.
Die Religion habe ein unerschütterliches Fundament geliefert, sagte Tilman, und sei nur ein einziges Mal selbst grundlegend umgestaltet worden, durch die sogenannte Amarna-Zeit, die jedoch kaum zwanzig Jahre anhielt, achtzehnte Dynastie, Pharao Echnaton, der mit der zentralen Gottheit Aton eine durch und durch von der Sonne gestaltete Weltsicht durchsetzte und alles, was an Amun-Re erinnerte, verfolgen und vernichten ließ.
Das sei nicht ungewöhnlich, sagte Farb, ein Umstürzler, der sich als gewalttätiger Alleinherrscher entpuppt.
Lebensnah, spottete Anne.
Sein Tod und die nachfolgende Zeit seien in vielen Aspekten ungeklärt, doch scheinen bürgerkriegsähnliche Zustände geherrscht zu haben. Details kenne man allein aus den Ausgrabungen und sei darauf angewiesen, sich aus diesen steinernen Zeugnissen ein Bild zu verschaffen.
Wie anders, fragte Anne.
Schade, sagte Farb.
Spannend sei es trotzdem, sagte Tilman, die neuen religiösen Überzeugungen scheinen vor allem durch die Eliten umgesetzt worden zu sein.
Im Alltag stießen sie auf Widerstand, fragte Farb.
Vieles spricht dafür, du kannst derart grundlegende Prägungen nicht dekretieren, unmöglich, nach so vielen Jahrhunderten sind sie zutiefst im Leben verwurzelt, und Echnaton brach höchst abrupt mit diesen religiösen Gewohnheiten, er war kompromißlos, ihm zufolge existierte lediglich die Sonne, Aton, als einzige Gottheit, die die Lebensrhythmen vorgab und mit unermeßlich weitem Abstand über allem thronte, jegliche Nähe war abgeschafft, niemand öffnete mehr sein Herz für seine Gottheit, die traditionell sehr wichtigen Stadtgottheiten waren beseitigt, die Feste eingestellt, tabula rasa, und wir verzeichnen den Versuch, einen radikalen Gottesstaat zu gründen, totalitäre Strukturen, durchgesetzt, wie wir heute sagen würden, mit Mitteln des Polizeistaats, und man ist versucht zu fragen, ob und wie andere Verhältnisse möglich sind.
Ein berechtigte und aktuelle Frage, sagte Farb, der Widerstand im Volk muß beträchtlich gewesen sein, die Ereignisse hatten möglicherweise wenig mehr als das Ausmaß einer Palastrevolution.
Echnaton herrschte keine zwei Jahrzehnte lang, erinnerte Tilman, und der alte Glaube, mit einigen neuen Akzenten versehen, setzte sich durch, es gab wieder Stadtgottheiten, die Feste wurden gefeiert, und in der Frömmigkeit durfte sich die Nähe zu den Göttern zeigen.
Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Farb stöhnte.
Auch Anne fühlte sich durch dieses Thema erschöpft. War denn immer nur eine Herrschaft religiöser Eliten denkbar, oder steinreicher Oligarchen, Finanzhaie und Börsenspekulanten, die aufgrund ihres Grundeigentums und ihrer milliardenschweren Vermögen die Abläufe dirigierten, und das soll es dann gewesen sein?
Farb lehnte sich zurück und schloß die Augen. Die Verhältnisse im alten Ägypten waren vermutlich doch nicht so grundlegend anders als die der Gegenwart.
Tilman lächelte. Die theologischen Ansätze lohnten, sich intensiv damit auseinanderzusetzen. Die Aufgabe des Menschen liege darin, den Lauf der Sonne zu balancieren, die in die Nacht versank und täglich neu geboren wurde, und die religiösen Riten bildeten das Werkzeug, so bleibe das Leben erhalten.
| WOLF SENFF
| Abbildung: Olaf Tausch, Luxor Museum Statuenkopf Echnaton 02, CC BY 3.0