Fabienne ist 16 und anders. Wie anders kann sie nicht wirklich fassen, obwohl sie es ständig versucht. Ihr Tagebuch (das sie nicht so nennen will, weil sie Tagebücher hasst) gibt Einblicke in die Gedanken und das Leben eines ganz besonderen Mädchens. Von ANDREA WANNER
Ihr Freund hat sie verlassen. Und sie ist sich selbst ein Rätsel: vergesslich, leicht abzulenken, fast nie lächelnd. Sie macht sich viele Sorgen, schläft schlecht. Und sie will endlich wissen, was mit ihr los ist – was außer ihr niemand in der Familie interessiert, bzw. von ihren Eltern einfach als nicht so schlimm abgetan wird. So sucht sie sich heimlich professionelle Hilfe. Von ihrem Therapeuten kommt dann der Vorschlag, dass sie täglich zur selben Uhrzeit ihre Gedanken notieren soll.
Eine Herausforderung ganz eigener Art. Fabi schreibkritzelt, notiert, streicht durch, sucht nach den richtigen Worten und entscheidet sich oft für Bilder. Vor allem Oktopusse, die scheuen aber neugierigen Wesen, finden sich in allen Formen und Farben auf ihren Blättern wieder. Sie sammelt Informationen über die Meerestiere mit den drei Herzen, die mit ihrer Haut sehen. Und wenn sie einen Forscher zitiert, der die Begegnung mit einem Oktopus »das Nächste zu einem Treffen mit einem Außerirdischen« nennt, spürt man, wie nahe sie sich diesen Tieren fühlt.
Denn irgendwie passt sie nicht in diese Welt. Sie beobachtet sich, ihr Verhalten. Konstatiert: »Ich bin nicht gestört, ich werde gestört.« Sie erhält von ihrem Psychologen die Diagnose Asperger und den Rat, an Gruppensitzungen teilzunehmen.
Der Text, kleine Collagen, gelbe Post-ist, Zeichnungen und handschriftliche Kommentare ergänzen sich zu einem komplexen Bild. Die Autorin Cornelia Travnicek erzählt konsequent aus Fabiennes Sicht, lässt beim Lesen ihre Ratlosigkeit, ihre tastende Unsicherheit, ihre Versuche »normal« zu sein, spüren. Ihr Dank gilt am Ende des Buches der neurodiversen Community im Internet. Die Illustrationen von Michael Szyszka runden das Tagebuch ab, lassen es wie ein sehr persönliches Dokument wirken, in das man einen Blick wirft – und sich unwillkürlich fragt, ob man dazu überhaupt berechtigt ist.
So folgt Fabi zum Beispiel der Anweisung zur Überwindung von Schreibblockaden: »Sie können es zum Anfang auch mit Listen versuchen, wenn Ihnen das mehr liegt. Beschreiben Sie sich selbst in 10 Worten«. Heraus kommt folgende Liste mit sieben Eigenschaften:
1. Listenverliebt
2. Sechzehn
3. Mittelgroß
4. Mitteldick
5. Brünett
6. Blass
7. Braunäugig
8.
So scheint das auf den allerersten Blick nicht viel zu verraten. Wenn sie dann allerdings erklärt, was es mit der Liste in dieser Form auf sich hat, dann ändert sich der Blick auf sie:
»Wenn du aus Versehen die Anfangsbuchstaben der Wörter in deiner Liste in den Summen 1, 1, 2, 3 hast auftreten lassen (L, S, M, M, B, B, B), und du weißt, dass du als Nächstes 5 Wörter mit demselben Anfangsbuchstaben finden müsstest, damit die Fibonacci-Folge perfekt ist, und das die Übung ad absurdum führen würde … Lassen wir das mit der Selbstbeschreibung.«
Sie versucht sich am Ausgehen, trinkt zu viel, geht mit auf ein Festival, obwohl Lärm ihr ein Graus ist. Sie lernt viel über sich, findet etwas über das Ich heraus, das ihr so fremd ist. Und sie stellt auch fest, dass es neben den Tintenfischen, die Einzelgänger sind, auch gesellige Arten gibt. Und der Titel des Buches beschreibt, was sie über sich selbst am Ende sagt: »Harte Schale, Weichtierkern«. Aus den letzten Sätzen ihres Tagebuches klingt so etwas wie Zufriedenheit.
Titelangaben
Cornelia Travnicek: Harte Schale, Weichtierkern
Mit Illustrationen von Michael Szyszka
Weinheim: Beltz & Gelberg 2022
124 Seiten, 15 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
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