Es gibt literarische Figuren, die bekannter sind als ihre Schöpfer. Das gilt für Georges Simenons Kommissar Maigret, für Agatha Christies Miss Marple und ganz sicher auch für Donna Leons Romanprotagonisten Guido Brunetti. Im Frühjahr ist der 31. Roman mit dem eigenbrötlerischen Kriminalkommissar aus Venedig seit 1992 erschienen, und viele von ihnen standen (auch dank der Verfilmungen) lange auf den Bestsellerlisten. Pünktlich zum Geburtstag hat der Diogenes Verlag den Band ›Ein Leben in Geschichten‹ vorgelegt. Von PETER MOHR
Im jüngsten Brunetti-Fall erleben wir, wie Venedig ganz allmählich wieder aus dem Lockdown erwacht und welche Folgen die Pandemie für die Lagunenstadt hatte. Die Touristen sind ausgeblieben, viele Geschäfte haben die Krise nicht überlebt.
So langsam, wie das Leben wieder erwacht, so gemächlich beginnt auch der Roman. Erst nach etlichen Seiten taucht die nicht mehr ganz junge, aber höchst attraktive Elisabetta Foscarini in der Questura auf. Die einstige Jugendfreundin Brunettis macht sich Sorgen um ihre Tochter, deren Ehemann offene Drohungen ausgesprochen hat. »Ich fürchte, er tut etwas Schlechtes«, mutmaßt Elisabetta und bringt damit die Handlung in Schwung.
»Er ist ein interessanter Mann. Er ist intellektuell und auch emotional interessant. Aber er ist ein ganz normaler Mann. Ich nehme an, es gibt viele Männer wie Brunetti, die intelligent und sensibel sind, die ihre Familie lieben und das Bedürfnis haben, ihren Job gut zu machen«, befindet Donna Leon über ihre Hauptfigur.
Brunetti ist aber nicht nur der Kommissar, der darunter leidet, das Böse nicht aus der Welt schaffen zu können; Brunetti ist stets auch der Familienvater und Ehemann. Seine Frau Paola, die aus eine der ältesten Familie Venedigs stammt, arbeitet als Professorin für englische Literatur (ähnlich wie Donna Leon selbst) und wirkt bisweilen mit ihrem aufbrausenden Temperament und ihrer leidenschaftlichen Diskussionswut wie ein leibhaftiges Relikt der 68er-Bewegung. Ihre heranwachsenden Kinder Raffaele und Chiara stehen oft hilflos zwischen den elterlichen »Fronten«.
Das Nebeneinander von Kriminalfällen und der Einblick in Brunettis Familienleben – das ganze eingebettet in das malerische Flair Venedigs: Dieses Erfolgskonzept von Donna Leon scheint sich zu einem Dauerbrenner zu entwickeln.
Donna Leon, die heute* vor 80 Jahren in Montclair im US-Bundesstaat New Jersey geboren wurde, arbeitete nach dem Studium als Reiseführerin, Werbetexterin und Dozentin für Englisch und englische Literatur, ehe sich seit den frühen 1990er Jahren ganz der Literatur widmete. In ihrer Freizeit reist die Opernliebhaberin quer durch Europa und verpasst kaum eine Händel-Inszenierung. In ihrem frühen Roman ›Aqua Alta‹ rahmte eine Händel-Arie ein Treffen Brunettis mit einem mysteriösen Mann in einem riesigen Palast ein.
In Venedig, wo Donna Leon lange lebte (heute hat sie ihren Erstwohnsitz in der Schweiz), gibt es mittlerweile Stadtpläne, auf denen die Handlungsschauplätze ihrer Romane extra ausgewiesen sind.
»Weil Venedig so außergewöhnlich schön ist, glauben die Menschen wahrscheinlich unbewusst, dass diese Stadt in jeder Hinsicht etwas Besonderes sein müsse«, erklärte Donna Leon ihren Kritikern, die ihr ein undifferenziertes und stark überzeichnetes Italienbild vorwerfen. Korruption und Vetternwirtschaft sind in fast allen Romanen tragende Handlungssäulen.
Als Kontrast dazu preist Donna Leon in Handlungsnebensträngen auch immer wieder das Dolce Vita, die italienische Küche, die exzellenten Weine und den etwas lockereren Lebensstil. Dennoch hat es die Autorin bisher untersagt, dass italienische Übersetzungen ihrer Werke erscheinen.
Donna Leon versteht es geradezu meisterlich, ihre Leser auf äußerst spannende Weise zu unterhalten und viele (falsche) Fährten zu legen. Die Welt ist auch nach dem jüngsten Roman ›Milde Gaben‹ noch nicht gerettet, das Böse noch nicht endgültig besiegt. Guido Brunetti wird weiter arbeiten müssen, und die Leser dürfen sich schon auf seinen nächsten Fall freuen.
Titelangaben
Donna Leon: Milde Gaben
Commissario Brunettis einunddreißigster Fall.
Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz
Zürich: Diogenes Verla 2022
352 Seiten, 25 Euro
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Donna Leon: Ein Leben in Geschichten
Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz und Christa Seibicke
Zürich: Diogenes Verlag 2022
191 Seiten, 22 Euro
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