Das, worum es in diesem tollen Bilderbuch geht, das gab es in diesen Wochen mehr als reichlich: Eicheln. Nachts hörte man sie auf Autodächer fallen, die Bürgersteige waren übersät davon, achtlos zertreten lagen sie da, eine Unmenge. Früher haben wir mit Eicheln und Kastanien gebastelt, dieses Kinderbuch zeigt einen ganz anderen Aspekt auf. Von BARBARA WEGMANN
Da ist ein kleines Mädchen, das in einer tristen Stadt lebt: graue Häuser, hohe Häuser, nirgendwo sieht man jemanden, niemand lacht, niemand, der Freude empfindet. Häuser ohne Farbe. Eine „schäbige, hässliche und heruntergekommene Stadt“. Überall in diesem Meer aus Beton nur anonyme Wohnungen, Straßen und Straßenschluchten. „Kein Grün. Alles kaputt. Keine Freude“. Schwarz und Grau bestimmen diese ersten Seiten, die Tristesse könnte nicht größer sein. Wer will da schon wohnen, wer muss da wohnen? Die Menschen, so beschreibt es das kleine Mädchen, waren wie die Stadt selbst genauso „hässlich, heruntergekommen und schäbig“. Ihre Gesichter ausdruckslos, ohne Regungen, ohne Hoffnung oder Zuversicht.
Das Mädchen ist ganz offensichtlich arm, lebt davon, zu stehlen. In der Hoffnung auf Geld oder Essen stiehlt es eines Tages einer alten Frau im Park die Handtasche. Die aber wehrt sich heftig, sagt dann schließlich: „Wenn du versprichst, sie zu pflanzen, lasse ich los.“ Das Mädchen hat keinen Schimmer, was die alte Frau wohl meint, stimmt aber letztlich zu. So erbeutet sie die Handtasche. „Doch als ich sie öffnete, waren nur Eicheln darin. Ich starrte die Eicheln an. Sie waren so grün, so vollkommen, so viele und ich begriff das Versprechen, das ich gegeben hatte. Ich hielt einen Wald in den Armen und wurde zu einem anderen Menschen.“ Das Mädchen vergisst Hunger und Durst und beginnt zu pflanzen, hier, dort, überall… Hinter leblosen Mauern, an Bushaltestellen, um Wohnblocks herum, an Cafés.
Spätestens an dem Punkt berührt das Buch sehr und es macht gleichzeitig nachdenklich. Mit der Beute hält man einen Wald in den Armen. Wie einfach wäre es doch, graue Städte neu zu gestalten, wie einfach wäre es, Farbe in Städte zu bringen, selbst in Viertel, in denen ärmere Menschen wohnen, wie einfach wäre es, die Natur, jeden Baum in der Stadt zu hüten wie einen Schatz. Wie einfach wäre es, der Natur in unserem Umfeld stets den wichtigsten Platz zukommen zu lassen, weil die Natur es ist, die unser Lebensumfeld lebenswert macht.
Für Nicola Davies und Laura Carlin war es nicht die erste Zusammenarbeit. Dass beide, für Texte und Illustrationen bereits Preise erhalten haben, lässt das Bilderbuch schnell erkennen. Ein Text, nicht sehr lang, aber voller Kraft und Aufbruch, klar und plakativ, wie die Zeichnungen, die an Ausdruckskraft sowohl im schlechten wie im guten Sinne nichts zu wünschen übrig lassen. Einfache Strichführung, keine großen Schnörkel, oft Andeutungen, Vieles wird gerade durch die grau-schwarze Farbe zu Beginn auch ohne Worte so beklemmend deutlich. Fast wie eine Skizze, fast lieblos dahingezeichnet. Zu den einfachen Formen schließlich dann die Kraft der Farbe. Wie viele wundervolle Farben es gibt, erkennt man so klar nach den anfänglichen tristen Seiten. Sie leuchten, machen gute Laune, ermutigen, bringen Leben und Freude.
Zwar sollte man eine alte Dame nicht ihrer Handtasche berauben. Es ist aber ja auch nur eine Geschichte. Eine Geschichte, die für ein Mädchen zur Mission wird und eine Geschichte, in der sich vieles plötzlich zum Positiven verändert. Ein wunderbares Bilderbuch, das ein Ziel sicher nicht verfehlen wird: es sensibilisiert für Natur und Grün und Blumen in unserem Umfeld und es wird dafür sorgen, dass kleine Leser Eicheln oder Kastanien mit ganz anderen kindlich neugierigen Augen sehen werden: „Ich hielt einen Wald in den Armen“.
Titelangaben
Nicola Davies: Ein Baum ist ein Anfang
(The Promise, 2014)
Illustriert von Laura Carlin
Aus dem Englischen übersetzt von Uwe- Michael Gutzschhahn
Stuttgart: Aladin 2022
48 Seiten, 15 Euro
Bilderbuch ab 4 Jahren