Meuten

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Farb warf einen Blick auf das Gohliser Schlößchen.

Er fühle sich wohl hier, sagte er und griff zu einem Keks.

Annika lächelte. Das Schlößchen sei ein Objekt für Liebhaber, sagte sie, liebenswert, sagte sie, doch es finde sich nicht auf der Liste der etablierten Kulturdenkmäler.

Tilman legte sich eine Pflaumenschnitte auf.

Annika stellte ein Schälchen Vanilllekipferl auf den Tisch.

Nein, gar nicht in erster Linie wegen des Schlößchens, sagte Farb, oder wegen der Kirchen.

Unsere Thomaner gastieren in allen Städten der Welt, sie seien berühmt, man höre sie gern, sagte Tilman und tat sich einen Löffel Schlagsahne auf.

Zwar war es noch kühl, er hatte einen Norweger übergestreift, aber die Sonne schien, man konnte auf der Terrasse sitzen.

Die Stadt sei widerständig, sagte Farb, diese Tradition müsse man schätzen und pflegen.

Die Nicolaikirche, erinnerte Tilman, die Montagsdemos.

Gewiß, sagte Farb, doch der Effekt der Vereinigung sei ambivalent, nein, er erinnere stets viel lieber an die Meuten, ein Eigengewächs der Stadt, sie seien zu Unrecht nicht im städtischen Selbstbild verankert.

Annika lächelte. Beharrungsvermögen gegen einen sich ausbreitenden totalitären Staat, gegen Spitzel und Denunziantentum, sagte sie, sie waren eine Jugendopposition im Nationalsozialismus.

Tilman rückte ein Stück näher zum Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Jugendliche, die gegen die Hitlerjugend kämpften, das Thema würde eine Stadt adeln, und Tilman fragte sich, weshalb das so spärlich öffentliche Resonanz fand, Schauprozesse waren damals veranstaltet worden, Jugendliche in Umerziehungsheime gesteckt, in das berüchtigte Jugendschulungslager Mittweida, wurden zu Zuchthausstrafen verurteilt, und noch heute gab es kein öffentliches Gedenken, keinen Platz im Gedächtnis der Stadt, so elend, es war ein Jammer, die Zeiten sind, wie sie sind.

Informelle Jugendgruppen, erklärte Farb, von Subkultur mochte man heute vielleicht reden, auch aus der Tradition der Pfadfinder, auch aus der Arbeiterbewegung, sie hatten ihre Treffpunkte, nannten sich nach den Straßen Lilienstraße, Arndtstraße, Eisenbahnstraße, Reeperbahn, auch Hundestart nach einem alten Friedhof in Kleinzschocher, auch einfach Schönefelder, Paunsdorfer, Stötteritzer oder Meyersdorfer Meute, die Hitlerjugend war verpönt, es gab Schlägereien, die Meuten blieben eisern, blieben standhaft, und falls ein neues Mitglied einmal gedankenlos mit Heil Hitler! grüßte, Farb lachte, klang ihm im Chor ein Hau ab! entgegen.

Als Meuten wurden sie von der Obrigkeit bezeichnet, herablassend, sagte Annika, doch sie nahmen den Namen an, wurden gelegentlich auch nach der im Sommer 1933 verbotenen Bündischen Jugend genannt.

Tilman stand auf und tat einige Schritte auf der Terrasse.

Farb griff zu einem Keks. Die Vanillekipferl hatten schon einmal intensiver nach Vanille geschmeckt, die Preise für Vanille waren gestiegen in den vergangenen Monaten.

Annika schenkte Tee nach, Yin Zhen. Sie war vernarrt in dieses Service, ein Geschenk, das Tilman ihr aus Beijing mitgebracht hatte, angeblich aus Beijing, wo er einen Halbmarathon auf der Großen Mauer gelaufen war, aber sie hatte es erst vor wenigen Tagen in einem Geschäft in der Innenstadt gesehen.

Ein Luftbild der Stadt Leipzig aus den 1930er Jahren. Zu sehen sind Wohnäuser und Fabriken.

Sie spielten Fußball, sagte Farb, verabredeten sich zum Wochenende für Kanu-Ausflüge, vorwiegend Jungen, für Wanderungen, auch für längere Fahrten, Lederhose war angesagt, auch mit Trägern, weiße Strümpfe, sie trugen gern Hut, sie hörten Jazz, sahen amerikanische Kino-Filme.

Freizeitgestaltung, sagte Annika.

Sie waren anfangs keine politische Organisation, schon gar nicht parteigebunden wie die Hitlerjugend, die sie verachteten – ab Juli 1934 gab es einen Streifendienst der Hitlerjugend – und mit der sie nichts zu tun haben wollten.

Widerständig, sagte Annika.

Zwangsläufig widerständig, sagte Farb lächelnd, in den Jahren 1937 und 1938 ermittelte die hiesige Gestapo gegen knapp dreihundert Jugendliche, die lokalen Meuten dürften zurecht in den Jahren 1938/39 als erste oppositionelle Jugendbewegung in einer deutschen Großstadt gelten, einzelne Mitglieder wurden zwischen 1938 und 1940 zu über einem Jahr Haft verurteilt, was auch immer, er bilde sich etwas darauf ein, sagte Farb, in dieser Stadt zu leben.

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