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Hölle

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Hölle

Man wird nichts tun können.

Das ist kein guter Anfang, Tilman.

Die Symptome sind vielfältig, und es ist unsere Welt, die leidet, ausnahmslos leidet, Farb, jeden Gedanken an Schonräume kannst du vergessen, nein, vorbei, da ist nichts, kein Schutzzaun, nirgends.

Tilman rückte näher an den Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Das Service mit dem Drachenmotiv war aufgedeckt, rostrot, Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Annika legte ihre Zeitschrift beiseite.

Die Temperaturen steigen global, überall, sie durchdringen jegliche Existenz, kein Fleckchen auf dem Planeten bleibt verschont, nichts, sie rufen schwere fiebrige Symptome hervor, täglich erreichen uns Nachrichten über schmelzende Gletscher, Waldbrände, Überflutungen, Hitzeperioden, Ernteausfälle, toxische Luft, Extremwetterlagen, der Planet bebt und zittert, als ob er unter Schüttelfrost läge, und mehr noch: vergessen geglaubte Krankheiten tauchen aus der Vergangenheit auf, Seuchen breiten sich aus, Arten sterben.

Der Planet leidet, es ist ein Elend.

Der Mensch, der einst triumphierend von sich sagte, er kenne »nichts Ärmeres unter der Sonn’ als euch Götter« –  er ist schlecht gestürmt, grottenschlecht, sein Fortschritt hat ins Niemandsland geführt, unaufhaltsam, die Luft geht ihm aus, der stolze homo sapiens hat ausgedient, war wohl falsch etikettiert, er sprang zu hoch.

Sein Absturz ist tief.

Doch allem Anschein nach nimmt er all das gar nicht wahr, er lebt immer noch in seinem Wolkenkuckucksheim, chauffiert die neuesten Nobelkarossen, megaloman, man möchte das nicht glauben, und ergeht sich in hochfahrenden Phantasien, wie dem Planeten wohl zu helfen sei.

Allein das! Annika lächelte. Er sei doch längst selbst durchdrungen von den Konsequenzen erhöhter Temperatur, spottete sie, physisch wie psychisch, und nehme die eigene Not nicht zur Kenntnis.

Die spezielle Form der Ignoranz, höhnte Farb und lachte, sei zwar paradox, aber wohl unvermeidlich, tat sich einen Löffel Schlagsahne auf und strich sie sorgfältig glatt.

Annika nahm einen Marmorkeks.

Doch sie frage sich, sagte sie, ob die Schwarzmalerei nicht gleichermaßen sinnlos und ob das Wehklagen hilfreich sei.

Das sei die Realität, widersprach Farb, harte Fakten, Tatsachen und keine Schwarzmalerei.

Tilman warf einen sehnsüchtigen Blick auf das Gohliser Schlößchen.

Der Mensch müsse sich dieser Wirklichkeit stellen, sagte Farb, oder wolle er ihn nicht sehen, fragte er, den Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Temperaturen und dem Zerfall der eigenen zivilisierten Standards. Die Not werde größer, zuverlässig größer, das könne er einfach noch abwarten, doch den letzten beißen bekanntlich die Hunde.

Er griff zur Tasse und trank einen Schluck Tee.

Tilman legte die Stirn in Falten.

Das sei unverkennbar, ergänzte Farb, denn das als gesichert geglaubte Niveau breche auf allen Ebenen ein, die Energieversorgung sei im Umbruch, die Gesundheitsfürsorge werde vernachlässigt, die Verkehrsinfrastruktur sei ein Wildwuchs, im Bildungsbereich werde nichts stabilisiert, die Versorgung mit Wohnraum sei skandalös, die Renten würden zurückgesetzt, der privat angehäufte Reichtum sei empörend, wohin der Blick falle, treffe er marode Strukturen.

Annika schwieg, sie atmete durch und schenkte Tee nach, Yin Zhen.

Viel werde geredet, sagte Tilman, und wenig geschehe, obgleich die Probleme bekannt seien, und es gebe durchaus politische Lösungen, zumindest teilweise, nur müßten sie durchgesetzt werden, die Zeit dränge.

Zugegeben, sagte Farb, man müsse aktuell tun, was aktuell möglich sei, doch verstehe er nicht, weshalb die Gefährdung des Planeten nicht offen diskutiert werde.

Solange die Not nicht ungeschminkt zutage trete, werde niemand eingreifen, Farb, sagte Tilman, und immerhin seien einzelne Maßnahmen eingeleitet.

Farb aß ein Stück von seiner Pflaumenschnitte.

Annika schwieg.

Man ziehe seine Mütze in die Stirn, spottete Farb, und erwarte, vom Orkan verschont zu bleiben, nein, sagte er, hierzulande werde die tatsächliche Dimension der Gefährdung vorzugsweise totgeschwiegen, wer möchte denn als Unruhestifter dastehen.

Die Gefährdung des Planeten, sagte Annika, sei das eine, das zweite sei der Kollaps der Zivilisation, das dritte aber der Einbruch des Menschen, auch das weigere er sich standhaft, wahrzunehmen, seine gestiegene Anfälligkeit für Krankheiten ebenso wie die Schäden an seiner Seele.

Farb stutzte, denn war es jetzt nicht Annika, die klagte und schwarz zu malen schien.

Rücksichtnahme sei aus der Welt, sagte sie, der Umgang untereinander werde roh und gewalttätig, Gemeinschaft verliere an Wertschätzung, Waffengebrauch nehme zu, der Nächste werde gecancelt, der Mensch werde dem Menschen ein Wolf.

Sie lehnte sich erschöpft zurück und griff nach ihrer Zeitschrift.

| WOLF SENFF

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Tilman nickte.

Annika schlug ihre Reisezeitschrift zu und legte sie beiseite.

Cheyne Beach liegt an der südwestlichen Ecke Australiens, nicht weit von Albany, sagte Tilman, fünfundsechzig Kilometer westlich, und wurde zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts Stützpunkt der Walfänger, dort vor der Küste wurde immer schon dem Wal nachgesetzt, anderthalb Jahrhunderte lang war es eine einträgliche Industrie, und Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde dort eine Station zur Verwertung der Walkadaver eingerichtet, die Cheyne Beach Whaling Company, die allerdings nicht besonders ertragreich war.

Annika lächelte. Das, sagte sie, war schon die Folge der ersten Jahre der weltweiten Proteste gegen den Walfang.

Die Proteste waren höchst wirksam, sagte Tilman, der Einsatz war allerdings lebensgefährlich, den Walfangbooten wurde mit wendigen Schlauchbooten in die Parade gefahren, so daß eine geordnete Jagd kaum möglich war, die Fangquoten gingen zurück, und im November 1978, alles gut, wurde die Walstation aufgelöst.

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Eine mediale Wirklichkeit, fragte Tilman.

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Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

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Annika lächelte. Lesen macht schlau, sagte sie und schenkte Tee nach, Yin Zhen.

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Sie habe sich unter der Tang-Zeit im siebten bis neunten Jahrhundert herausgebildet, sie habe ihre Blüte unter den Song und Yuan (10. Jh. bis 15. Jh.) erlebt, ihr Schwerpunkt habe sich seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts auf das Genre der Blumen und Vögel verlagert, und im neunzehnten Jahrhundert sei die große Landschaftsmalerei nach und nach erloschen.

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Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Annika warf einen Blick auf das Gohliser Schlößchen.

Farb strich die Sahne auf seinem Kuchen langsam und sorgfältig glatt.

Wette schwieg.