//

Phantasie

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Phantasie

Den Gedanken, sagte Sut, dürfen keine Hindernisse im Weg stehen, versteht ihr, sie müssen sich ungezügelt entfalten.

Wo das Problem liege, fragte Bildoon.

Wir sollen neu denken, sagte Harmat.

Wie – neu denken, fragte Bildoon.

Mahorner lächelte.

Crockeye gähnte.

Der Ausguck überlegte, zum Strand zu gehen.

[Francis Poulenc starb am 30. Januar 1963 in Paris an Herzversagen. Sein Grab befindet sich auf dem Père Lachaise in Paris, Division 5, Nr. 28.]

Haben wir vielleicht all die Jahre falsch gedacht, ob er das meine, fragte Thimbleman.

Falsch zu denken, das sei unmöglich, widersprach Rostock und lachte.

London schüttelte den Kopf.

Man müsse anders denken, sagte Sut, die überkommenen Gedankengebäude seien überaltert, sie seien morsch, sie seien rostig, sie gehörten abgerissen, sagte Sut, damit die Welt wieder geschmeidig werde, wieder beweglich, man müsse die Verhältnisse zum Tanzen bringen.

Er verstehe kein Wort, klagte Harmat.

Die Vergangenheit sei eines dieser labilen Gedankengebäude, versteht ihr, ein Phantasiegebilde, ein Luftschloß, sagte Sut, ein Wolkenkuckucksheim, denn real existiere sie nicht, oder könne man sie etwa aufsuchen, könne man sie sehen, könne man sie betreten, könne man sie malen. In jedem Augenblick versinke die Gegenwart unwiederbringlich. Falle sie ins Nichts? Finde sie Zuflucht? Eine Herberge? Wo komme sie unter?

Harmat brachte keinen Ton heraus.

Vergangenheit existiere nicht? Bildoon war sprachlos.

[Sarah Bernhardt wurde gerühmt wegen ihrer schönen Stimme, der Anmut ihrer Bewegungen und wegen ihres Temperaments. Sie starb am 26. März 1923 in Paris und ist auf dem Père Lachaise beerdigt.] 

Der Mensch lege sich eine Vergangenheit zurecht, sagte Sut, eine Illusion, sagte er, doch das sei seine Art, Wurzeln zu schlagen, der Mensch könne nicht leben ohne eine Vergangenheit, so wirr und artifiziell sie sein möge, und mancher flüchte sich in dieses Konstrukt, weil er anders die Gegenwart nicht verstehe.

Ob Vergangenheit folglich eine Frage des Glaubens sei, fragte Rostock und beugte sich gespannt vor.

Sut bewegte sich auf dünnem Eis.

Der Ausguck stand auf, tat einige Schritte und löste sich in der Dunkelheit auf.

Was hatte der nur ständig mit seinem Salto, dachte Crockeye entnervt.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Touste erschrak.

LaBelle rückte ein Stück näher an die wärmenden Flammen.

Manch einer tauche unter in die Vergangenheit, sagte Sut, und ertrinke darin. Vergangenheit, wiederholte er, sei aber eine Illusion, ein Phantasiegebilde, der Mensch, wiederholte Sut, lege sich eine Vergangenheit zurecht, er bastele sich eine Welt, und diese Vergangenheit sei beispielhaft für ein Denken, das den Menschen in Sackgassen führe, der Mensch wisse nicht ein noch aus.

Ob er keine Ahnung habe, fragte Thimbleman.

Der Mensch erkenne die Wirklichkeit nicht, bestätigte Sut, er erfinde sich eine Welt, in der alles auf ihn selbst ausgerichtet sei, ich sprach von den Gedankengebäuden, mit denen er sich über die realen Verhältnisse hinwegtäusche und sich in der schmeichelhaften Illusion wiege, die ihn umgebenden Dinge existierten um seinetwillen.

Kraß, sagte Rostock.

[Im Jahr 1917 lernte Clara den Dichter Yvan Goll kennen, der ebenfalls jüdischer Herkunft war. Ende 1918 hatte sie eine Affäre mit Rainer Maria Rilke. Bis zu dessen Tod blieb sie freundschaftlich mit ihm verbunden. Sie liegt gegenüber von Frédéric Chopin auf dem Pére Lachaise, Division 11.]

Er blicke auf sich selbst, sagte Sut, und nehme die ihn umgebenden Dinge in Bezug auf sich selbst wahr.

Anthropozentrismus, ergänzte Pirelli.

Die Welt sei ihm fremd, fragte Thimbleman.

Der Ausguck war amüsiert.

Wer die Welt nicht kenne, kenne sich selbst nicht, wandte Pirelli ein.

Der Mensch sehe die Wirklichkeit nicht, wiederholte Sut, seine Aufgaben im Geflecht des Lebendigen kümmerten ihn nicht, die Moderne führe den Menschen ins Abseits.

Darin seien sie sich einig, sagte der Ausguck.

Sut, Gramner und Termoth?, fragte Bildoon.

Genau, sagte der Ausguck, und der erste folgenschwere Fehltritt, ein düsteres Vorspiel zur Machtergreifung des Maschinenwesens, werde durch den Übergang von den eleganten Windjammern zur stinkenden Dampfschiffahrt markiert, auch darin seien sie sich einig.

Seitdem gebe es Fahrpläne, fragte Bildoon.

Seitdem gebe es Fahrpläne, sagte der Ausguck.

Thimbleman starrte in die Glut.

LaBelle blickte hinaus zur Lagune.

Der Ozean flüsterte.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer, faßte sich an die Schulter, der Schmerz ließ von Tag zu Tag nach, die Schulter ist ein sensibles Gelenk.

Der Ausguck erhob sich schweigend und löste sich nach wenigen Schritten in der Dunkelheit auf.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Der erste moderne deutsche Schriftsteller

Nächster Artikel

Südländisches Temperament

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Wunderkinder

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Wunderkinder

Eldins Schulter?

Kein Ende in Sichtweite.

Kann folglich noch dauern. Scammon?

Hockt achtern in seiner Kajüte über seinen Aufzeichnungen.

Läßt sich nicht blicken?

Läßt sich nicht blicken.

Der Ausguck nickte und ging in den Handstand. Thimbleman ließ einige Sekunden verstreichen, bevor er applaudierte.

Demokratie

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Demokratie

Entbehrlich, er ist entbehrlich.

Farb lachte. Verzichtbar.

Die Welt stünde ohne ihn keineswegs schlechter da.

Ohnehin ergeht es ihm miserabel, da greifen auch all seine Versuche nicht, gute Laune zu stiften, ehrlich, er ist überflüssig, und außerdem – was trage er bei zum Wohlbefinden des Planeten, nichts, wer brauche ihn, niemand, er nehme sich vom Kuchen und gebe nichts zurück.

Tilman rückte näher zum Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Durchaus sei denkbar, sagte Farb, daß sein Abgang eine befreiende Wirkung hätte, der Planet würde von Zwängen und Knebelungen erlöst, der Tag zum Beispiel dürfte Persönlichkeit entfalten, als ein lebendiges Wesen wahrgenommen werden wie andere auch, er verströmte gute Stimmung unter einem blauen Himmel, er wäre melancholisch unter dunklen Wolken und Regenschauern, neigte zum Zornausbruch unter Blitz und Hagel.

Revolution

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Revolution

Sie nennen es Digitalisierung, sagte Gramner, und das sei ihre neueste technologische Revolution.

Sensationell, murmelte Mahorner abfällig.

Die Revolutionen der sogenannten Moderne ereigneten sich in immer kürzeren Abständen, höhnte Pirelli.

So werde die Zukunft sein, sagte Rostock und lachte brüllend. Er setzte die Flasche an und trank einen Schluck. Ach was, was zum Teufel sorgten sie sich um eine Zukunft, die in weiter Ferne liege.

Erzähler und Zuhörer

Kurzprosa | Uwe Timm: Montaignes Turm »Ich bin überzeugt, dass wir in unserer Seele einen besonderen Teil haben, der einem anderen vorbehalten ist. Dort sehen wir die Idee unserer anderen Hälfte, wir suchen nach dem Vollkommenen im anderen«, erklärte der männliche Protagonist Eschenbach in Uwe Timms letztem Roman Vogelweide (2013). Mit diesem äußerst anspielungsreichen Buch hatte Timm nicht nur einmal mehr seine immense Vielseitigkeit unter Beweis gestellt, sondern den Gipfel seines bisherigen künstlerischen Schaffens erklommen. Jetzt ist sein Essayband Montaignes Turm zu seinem 75. Geburtstag am 30. März erschienen. Von PETER MOHR

Zerbrechlich

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Zerbrechlich

Sensible Systeme sind störanfällig.

Ist hinlänglich bekannt.

Nur daß ungern darüber geredet wird, Tilman, schon gar nicht öffentlich.

Beim Ausbruch des Vulkans Hunga-Tonga-Hunga-Ha'apai in der Südsee riß an zwei Stellen ein wichtiges Unterseekabel ein, mit dem nahezu alle digitalen Informationen einschließlich Telefon- und Internetkommunikation übertragen werden, die internationalen Verbindungen mit Tonga sind seitdem gekappt, man muß sich das ausmalen, es werde Wochen dauern, den Schaden zu beheben, ein Kabelreparaturschiff sei unterwegs, die Dinge gestalten sich kompliziert.