Schülerinnen und Schüler, deren Namen nur kurz mittels des ersten Anfangsbuchstabens genannt werden, treffen auf einen Lehrer, der zusammen mit ihnen das System hinterfragt. Welche Begriffe verwenden wir im Alltag: „Neger“ oder „Schwarzer“? Wann gehen Gefühle zu weit und wann werden Bewunderung oder gar Liebe zu Mordabsichten? Und kann das nicht in jeder Situation und Zeit passieren? Von JENNIFER WARZECHA
Das fragt man sich angesichts dessen, dass Ödön von Horváth , als er das Stück schrieb, selbst das Dritte Reich erlebte und von da aus auch seine kritischen Überlegungen zu Politik und Gesellschaft führte und schließlich in 44 knappen Kapiteln eines Romans niederschrieb.
In Pforzheim kommt der Roman als Musical, Musik und zusätzliche Texte: Philipp Gras, Text: Claudio Gottschalk-Schmitt, auf die Bühne. Auch damit wird das Gefühl einer Zeit transportiert, die die die aktuelle Generation nur aus Erzählungen oder Schriftzeugnissen der vorherigen kennt. Unterstützt wird dieses Bild durch die Kommandantin/Richterin (glänzend in ihrer Rolle: Lilian Huynen), die im Kommandoton ins Stück eingreift und als Richterin in dem Mordprozess die Angeklagten gehörig hinterfragt. Wer sind sie wirklich, die da auf der Anklagebank sitzen? Was treibt sie an? Was bewegt sie? Eva, ein Mädchen, das autark im Wald lebt (ausdrucksstark, authentisch und überzeugend: Joanna Lissai), wehrt sowie verteidigt sich und ist ein Bild von zugleich größter Verzweiflung und Hoffnung. Ist sie die Schuldige, die jemanden umgebracht hat, nur weil sie im Wald lebt und existenziell damit bloßer und nackter als zum Beispiel der Lehrer (authentisch und ehrlich: Jacob Hetzner) ist?
Von ihm geht das Stück aus und an ihm zeigt sich die Entwicklung von der Überlegung her, wie man Worte verwendet – im Umgang miteinander oder auch im politischen Wirken, zeigt doch die ganze Gender-Debatte, dass Worte auch verletzen oder falsch verwendet werden können. Vor allem können sie, wie wir im Dritten Reich oder an anderen politischen Schauplätzen gesehen haben, manipulieren und beeinflussen. In „Jugend ohne Gott“ schließen sich einerseits Jugendbünde zusammen und beschwören das Ideal der Freundschaft.
Andererseits taucht in einem vermeintlichen Klassenverbund auf einmal die Frage auf, wer von den Schülerinnen und Schülern eigentlich der Mörder oder die Mörderin ist. Einer verrät den Mörder und teilt das dem Lehrer mit. Dieser muss das verraten, was Folgen nach sich zieht. Auch beim Zuschauenden im Publikum des fast voll besetzten Großen Hauses bleibt mindestens ein Fragezeichen zurück. Wo verläuft die Grenze zwischen Moral, konformem, angepassten Leben und Verhalten zu dem, dass man, zum Beispiel der Gerechtigkeit wegen, auch mal aus dem System herausbricht?
Eines spendet Trost, gibt es doch noch viele bestehende autoritäre Systeme auf der Welt. Sie legen nahe, dass es immer noch zu viele Mitläufer und Menschen, die nicht selbst über ihr Verhalten nachdenken, sondern sich lieber dirigieren lassen, gibt. Im Musical treten verschiedene Charaktere auf; die des Schülers, der das Regime hinterfragt, dem eines systemkonformen Schülers, ein neugieriger und wissbegieriger Schüler oder ein vorerst angepasster, höflicher Schüler. Teils stehen sie füreinander ein.
Doch folgt der trauten Idylle ein Mord. Was genau dahinter steckt und weitere Gedanken dazu können und sollten sich weitere Besucherinnen und Besucher des Musicals auch machen. Denn auch dieses ist von der gewohnten Pforzheimer Qualität und absolut empfehlenswert, samt der musikalischen Umrahmung und aller Beteiligten. Einfach klasse!
Titelangaben
Theater Pforzheim: Jugend ohne Gott
Musical nach dem Roman von Ödön von Horváth
Besetzung
LEHRER: JACOB HETZNER
Z, EIN SCHÜLER: FLORIAN HEINKE
EVA, EIN MÄDCHEN: JOANNA LISSAI
KOMMANDANTIN / RICHTERIN: LILIAN HUYNEN
N’S VATER / PFARRER: MARKUS WESSIACK
JULIUS CAESAR BERNHARD MEINDL
REKTORIN / Z’S MUTTER: MICHAELA FENT
N, SCHÜLER: JAN-DAVID BÜRGER
T, SCHÜLER: EMILIO MORENO ARIAS
B, SCHÜLER: MATS VISSER
L, SCHÜLER: HELENA BARNEVELD / JULIA FLEISCHHAUER
R, SCHÜLER: MAX RANFT
MUSIKALISCHE LEITUNG: PHILIPP HAAG / LUKAS ZIESCHÉ
INSZENIERUNG_ JASPER BRANDIS
AUSSTATTUNG: ESTHER BÄTSCHMANN
CHOREOGRAFIE: JANNE GEEST
DRAMATURGIE: ANDREAS FRANE
THEATERPÄDAGOGIK: SWANTJE WILLEMS
Termine
Do. 08.06.2023, Beginn: 20 Uhr; So. 11.06.2023, Beginn: 19 Uhr; Mi. 14.06.2023, Beginn: 20 Uhr; Mi. 21.06.2023, Beginn: 20 Uhr; Sa. 24.06.2023, Beginn: 19.30 Uhr; Di. 27.06.2023, Beginn: 20 Uhr; Mi. 28.06.2023, Beginn: 20 Uhr; Sa. 01.07.2023, Beginn: 19.30 Uhr; Do. 06.07.2023, Beginn: 20 Uhr; Fr. 07.07.2023, Beginn: 19.30 Uhr; Di. 11.07.2023, Beginn: 20 Uhr; Fr. 14.07.2023, Beginn: 19.30 Uhr; Mi. 19.07.2023, Beginn: 20 Uhr