Zwischen Meister und Gesellen

Roman | Uwe Timm: Alle meine Geister

In Alle meine Geister beschwört der 83jährige Uwe Timm die Weggefährten seiner Lehrzeit herauf und wagt die Ehrenrettung eines fast verschwundenen Metiers: des Kürschnerhandwerks. Dessen Handgriffe und Fertigkeiten dem Schriftsteller lebenslang zugutekommen werden. Auch wenn der Rückblick besiegelt: »Erinnern ist ein merkwürdiges Vergessen.« Von INGEBORG JAISER

Wer wird schon als Schriftsteller geboren? Die derzeitigen Absolventen der Literaturinstitute haben zuvor vielleicht Sprachen, Komparatistik oder irgendwas mit Medien studiert. Eine frühere Generation jobbte noch als Postbote oder Kellner. Doch wer hat schon einen soliden Handwerksberuf erlernt? Mit drei Lehrjahren, präzisen Arbeitsschritten und einem abschließenden Gesellenstück?

Gerade mal 14jährig wird der junge Uwe Timm von seinem Vater in die Kürschnerlehre gegeben. Nicht unbedingt sein Lieblingsberuf – viel eher möchte er schreiben, neu- und wissbegierig, wie er ist, wenngleich nicht ohne Handicap. Seine Aufsätze sind lang, aber voller Fehler. Ein Grund für den Vater, eine Höhere Schule gar nicht erst ins Auge zu fassen: »Besser ein guter Volksschüler als ein schlechter Gymnasiast«. Uwe, der einzig verbliebene Sohn der Familie (der ältere Bruder ist im Krieg gefallen – später Am Beispiel meines Bruders literarisch verarbeitet) fügt sich fatalistisch in diese Entscheidung, wie auch in alle anderen. Aufbegehren wäre damals noch keine Option gewesen.

Anschreiben gegen das Vergessen

In Alle meine Geister (die »guten« will man als Leser fast eilfertig hinzufügen) blickt der heute über 80-Jährige viele Dekaden später auf seine Lehrzeit im Pelz- und Modehaus Levermann zurück, auf eine prägende Phase der Selbsterkundung, des Erwachsen- und Bewusstwerdens. Coming-of-Age würde man heute sagen, doch 1955 ticken die Uhren ganz anders. Noch sind die Kriegsfolgen im Alltag präsent, noch sieht man Kriegsverletzte mit Krücken und umgeschlagenen Jackenärmeln, noch sind im Ausbildungsbetrieb ehemalige Korvettenkapitäne und Kommandeure tätig. Es ist die Zeit der erstarrten Konventionen, der Tanztees, seichten Schlager und Heimatfilme. Doch die Kürschnerei wird wertgeschätzt, zählte sie gar im Mittelalter zu den sieben Höheren Künsten.

Uwe Timm schärft auch uns den Blick für ein anspruchsvolles Handwerk, das Sorgfalt und äußerste Präzision, »Fingerspitzengefühl und Fingerfertigkeit« erfordert. »Die Obsession der Genauigkeit, die Achtung gegenüber der Besonderheit des Materials und die Verpflichtung, dieses in eine perfekte Form zu bringen, ist ein sinnbildender Prozess.« Detailliert und kenntnisreich beschreibt Timm die vielfältigen Arbeitsschritte, das Abgleichen, Sortieren, Hin- und Herschieben, Austauschen, Berechnen, Einschneiden und Nähen der Nerz-, Nutria-, Feh- oder Biberfelle. Im Bewusstsein, dass diese Fertigkeiten und ihre spezifischen Fachtermini, bis hin zu ihren Auswirkungen auf Sprache und Literatur, vom Aussterben begriffen sind. »Erkennbar wird, welcher Verlust entstehen könnte, wenn das Deutsche zugunsten des Englischen noch weiter aus den Wissenschaften verdrängt wird.«

Das Fell ist die Haut des Lebens

Und darin liegt der Zauber dieses Buches: im Übergang vom Handwerk zur Literatur, im Verschmelzen von Erinnerungen, Traumsequenzen, erneuter Lektüre, analytischen Schilderungen, freiem Erzählen. Wenn im Rückblick Kunden und Kollegen, Begegnungen und Bekanntschaften wieder aufscheinen, wirkt die Kürschnerlehre wie eine Schule fürs Leben, gar für die Schriftstellerei. Hatte der junge Uwe Timm tatsächlich das Glück, so vielen literaturbegeisterten Meister, Gesellen, Kollegen und Weggefährten zu begegnen, die ihm die Augen öffneten für Salinger, Henry Miller, Dostojewski, Thomas Mann, Kafka und Camus? Oder sind ihm nur jene in besonderer Erinnerung geblieben? So wie die charismatische russische Kundin, die mit der Bitte um Ausbesserung eines abgetragenen Persianermantels (im Futter noch das Etikett eines Hoflieferanten des Zaren) geradezu traumwandlerisch den Weg zur russischen Literatur geebnet hat?

Doch in dieser Phase wird Uwe Timm bereits in eine neue Rolle gedrängt, nachdem der einem Herzinfarkt erlegene Vater ein nahezu insolventes Pelzgeschäft hinterlassen hat. Gerade ausgelernt und als 18-Jähriger schon bedingt geschäftsfähig, rettet er mit Mutter und Schwester in selbstausbeuterischer Manier das Atelier. Doch alle Zeichen stehen auf Wandel: Pelze zu tragen, gilt bald als ethisch nicht mehr vertretbar. Eines Tages steht auf dem Schaufenster in weißer Farbe »Mörder«. »So endeten das Kürschnergeschäft und der Mythos der Selbstständigkeit.«

Uwe Timm ergreift die Chance, um im Braunschweig-Kolleg das Abitur nachzuholen, das ihm später den Weg zum Studium ermöglichen wird. Und am Horizont erscheint auch schon sein erster Roman Heißer Sommer (1974). Denn grundlegende Techniken der Schriftstellerei – das Verschieben, Austauschen, Montieren, die präzise, konzentrierte Arbeit – bringt Uwe Timm von seinem Ausbildungsberuf mit.  Die Fäden zur Vergangenheit knüpft er heute meisterhaft in seinem aktuellen Erinnerungsbuch, dem ganz bewusst nicht das Etikett Autobiographie anhaftet, viel eher überzeugt es durch seine Nähe zum klassischen Entwicklungs- und Bildungsroman. Aus dessen Lektüre auch der Leser mit einer neuen Sicht auf das Leben hervorgehen wird.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Uwe Timm: Alle meine Geister
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2023
276 Seiten. 25 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Uwe Timm in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Spielregeln

Nächster Artikel

Die 80er in einem Sandkorn

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Noch einmal von vorn beginnen

Roman | Håkan Nesser: Die Lebenden und Toten von Winsford Håkan Nesser ist ein Meister des stillen Thrills. Sowohl in seiner zehnbändigen Kommissar-van-Veeteren-Reihe als auch in den Büchern um seinen zweiten Serienhelden Gunnar Barbarotti hat er die krachende Action, die einige seiner nordeuropäischen Kollegen so lieben, immer vermieden. Stattdessen nahm er seine Leser mit auf eine Reise ins Innere seiner Figuren, erzeugte Spannung aus deren seelischen Bedrängnissen, unverarbeiteten Kindheitserlebnissen und nicht vergessenen Demütigungen heraus. Sein aktueller Roman Die Lebenden und Toten von Winsford begleitet eine Frau in die Einsamkeit eines kleinen südenglischen Dörfchens. Es geht um einen Neuanfang – doch

Eine Frage der Ehre

Roman | Loraine Peck: Der zweite Sohn

Die Novaks sind 1980 aus Kroatien nach Australien ausgewandert. In der zu Sydney gehörenden westlichen Vorstadt Liverpool City kontrollieren sie inzwischen den Handel mit Partydrogen und waschen Geld aus Erpressung und Raubüberfällen über die zehn in ihrem Besitz befindlichen und von Landsleuten geführten Fischgeschäfte. Als eines Morgens Ivan, der ältere der beiden Söhne von Clanchef Milan, vor seinem Haus erschossen wird, erwartet die Familie von Johnny, dem Jüngeren, dass er den Bruder rächt. Aber Johnny, der in den Augen seines Vaters immer der schwächere Zweitgeborene war, zweifelt daran, dass hinter dem Mord die serbische Konkurrenz steckt, die die Novaks aus ihren Geschäften drängen will. Und da er sich ohnehin Sorgen um seine Frau Amy und Sohn Sasha macht, würde er am liebsten aus dem Familiengeschäft aussteigen. Doch um einen letzten Job kommt er nicht herum. Von DIETMAR JACOBSEN

Aggression nach außen

Roman | Michael Kumpfmüller: Ach, Virginia

»Liebster, ich bin mir sicher, dass ich wieder wahnsinnig werde, ich kann nicht länger dagegen ankämpfen«, lässt Michael Kumpfmüller in seinem neuen Roman seine Hauptfigur, die weltbekannte Schriftstellerin Virginia Woolf (1882-1941) klagen. Der 58-jährige Erfolgsautor Kumpfmüller, der erst im Alter von fast vierzig Jahren mit seinem von der FAZ damals vorab gedruckten Romanerstling Hampels Fluchten debütiert und zuletzt mit Nachfolgewerken wie Die Erziehung des Mannes (2016) und Tage mit Ora (2018) respektable Erfolge gefeiert hatte, widmet sich künstlerisch nun zum zweiten Mal einer Lichtgestalt der Weltliteratur. Vor neun Jahren ließ er uns in Die Heimlichkeit des Lebens an seiner Annäherung an Franz Kafka teilhaben. Von PETER MOHR

Keine Leiche, kein Verbrechen

Menschen | Zum 80. Geburtstag von António Lobo Antunes erscheint der Roman ›Die letzte Tür vor der Nacht‹

Seit mehr als zwei Jahrzehnten wird sein Name im Herbst stets hoch gehandelt, wenn das Rätselraten um die Verleihung des Nobelpreises in die heiße Phase geht. Nun ist der 29. Roman des Portugiesen António Lobo Antunes erschienen, der am 1. September 1942 im durch den Fußball bekannten Lissaboner Vorort Benfica als Sohn eines Arztes geboren wurde und selbst viele Jahre als Chefarzt einer psychiatrischen Klinik gearbeitet hatte. Von PETER MOHR

Auf Marcel Prousts Spur

Roman | Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen Bis zur Lektüre von ›Der Hase mir den Bernsteinaugen‹ habe ich nicht gewusst, was Netsuke sind. Musste man ja auch nicht. Aber jetzt weiß ich, dass es sich dabei um das ästhetische »Fingerfood« kleiner japanischer Holz- & Elfenbeinschnitzereien handelt & dass der Londoner Keramikprofessor (auch ein akademischer Grad, von dem ich bislang noch nie etwas gehört hatte) Edmund de Waal 264 Stück Netsuke besitzt, deren Lebensweg er in seinem grandiosen Buch (dem kein zweites dieser Art »aus seiner Feder« folgen dürfte) beschreibt. Der Titel gebende ›Hase mit den Bernsteinaugen‹ ist