Ein leidenschaftlicher Europäer

Sachbuch | Timothy Garton Ash: Europa – Eine persönliche Geschichte

Der renommierte britische Historiker Timothy Garton Ash hat mit ›Europa – Eine persönliche Geschichte‹ ein monumentales Buch veröffentlicht, das eine Art Lebenswerk darstellt. Anhand von Erzählungen und Gesprächen mit Protagonisten veranschaulicht der engagierte Europäer Ash die prägenden Entwicklungen des Kontinents. Von DIETER KALTWASSER

Am Anfang des Buches zitiert er Leo Tolstoi, der in seinen Tagebüchern schreibt: »Eine wirkliche, wahre Geschichte über das Europa unseres Jahrhunderts zu schreiben, das wäre ein Ziel fürs ganze Leben.« Daran anschließend vergisst er nicht, an eine Weisheit Sören Kierkegaards zu erinnern: »Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, dass das Leben rückwärts verstanden werden muss. Aber darüber vergisst man den andern Satz, dass vorwärts gelebt werden muss.«

Ash schreibt über sein neues Buch: »Es ist keine Autobiografie. Vielmehr ist es eine Geschichte, die durch persönliche Erinnerungen veranschaulicht wird.« Dafür waren für ihn seine Tagebücher, Notizhefte, Fotos und Erinnerungen ebenso wichtig wie seine Studien und Forschungen in den letzten fünfzig Jahren, aber auch die Erinnerungen anderer: »Wenn ich also von ›persönlicher‹ Geschichte spreche, meine ich nicht nur ›meine eigene‹, sondern die Geschichte, wie sie von einzelnen Menschen erlebt und durch ihre Geschichten exemplifiziert wurde.« Und weiter: »Ich zitiere aus meinen Gesprächen mit führenden europäischen Politikern, wenn dies zur Erhellung der Geschichte beiträgt, aber auch aus vielen Begegnungen mit sogenannten einfachen Leuten, die oft viel bemerkenswertere Menschen sind als ihre Politiker.«

Die Ordnung, die der Historiker dem europäischen Staatengebilde in seinem Buch gibt, ist chronologischer Natur. Sein Europa nach dem Zweiten Weltkrieg: »Zerstört (1945)«, »Geteilt (1961–1979)«, »Aufstrebend (1980–1989)«, »Triumphierend (1990–2007«) und »Taumelnd (2008–2022)«.

Dieses neue Werk des bedeutenden Historikers behandelt Aspekte und Fragestellungen, die ihn seit mehreren Jahrzehnten beschäftigen. Timothy Garton Ash ist der Autor von elf Büchern zur Geschichte der Gegenwart, die den Wandel Europas während des letzten halben Jahrhunderts beschreiben. Er lehrt als Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und ist Senior Fellow an der Hoover Institution der kalifornischen Stanford University. Zudem schreibt er für internationale Zeitungen und Zeitschriften.

Der Historiker gilt als engagierter Europäer, der sich schon vor 1989 nicht mit der Teilung des europäischen Kontinents abfinden wollte und bis zuletzt gegen den Brexit kämpfte. Er zählt zudem zu den wichtigsten Chronisten der friedlichen Revolution von 1989. Schon Jahre zuvor war er in den Metropolen Mitteleuropas unterwegs und traf sich mit Dissidenten wie Lech Wałęsa und Václav Havel. Aus Ashs Reportagen erfuhr der Westen, wie der Osten in Bewegung geriet. Und bereits im Herbst 1990 legte Garton Ash ein wichtiges Buch über diese Epochenwende vor: ›Ein Jahrhundert wird abgewählt‹.

Im März 1994 auf einer Konferenz in Sankt Petersburg nahm er zum ersten Mal Wladimir Putin wahr, der erklärte, dass es außerhalb der Russischen Föderation Gebiete gebe, »die historisch immer zu Russland gehört haben« und nannte in diesem Zusammenhang die Krim. Zwanzig Jahre danach stand Putin »vor einem ekstatischen Publikum im Kreml um die Annexion der Krim durch Russland zu feiern, die dem souveränen Staat der Ukraine gewaltsam entrissen wurde.« Ash drückt es klar und deutlich aus: »Putins Russland ist eine faschistische Diktatur.«

Ash erinnert sich daran, dass und wie sein eigener Vater 1944 in der Normandie landete, um damit als britischer Soldat für die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus zu kämpfen. Ash hat viele Orte Europas wiederholt besucht, und ihm wurde immer bewusster: »Den Menschen ist es nie gelungen, den Himmel auf Erden zu errichten, auch – oder gerade – wenn sie es versucht haben. Dafür haben sie immer wieder die Hölle auf Erden geschaffen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben die Europäer das ihrem eigenen Kontinent angetan, so wie sie es in früheren Jahrhunderten den Kontinenten anderer Völker angetan hatten. Niemand anderes hat es für uns getan. Es war europäische Barbarei, von Europäern begangen an Europäern – und oft im Namen Europas. Man kann erst dann ansatzweise verstehen, was Europa seit 1945 zu tun versucht hat, wenn man von dieser Hölle weiß.«

Ashs Blick auf Europa als eines freiheitlichen Orts wird immer wieder kritisch hinterfragt: »Wo die Sache Europas mit der der Freiheit Hand in Hand ging, war ich am glücklichsten, wo Europa mit der Freiheit in Konflikt zu geraten schien oder ihr zumindest gleichgültig gegenüberstand, war ich am bestürztesten. Freiheit, die niemals vollständig zu erreichen ist, bedeutet viel mehr als die Abwesenheit von Diktatur. Aber als ersten Schritt muss man sich seiner Diktatur entledigen, wie es die Spanier, Portugiesen und Griechen getan hatten.«

Seit Jahrzehnten beobachtet Timothy Garton Ash nun die politischen und gesellschaftlichen Geschehnisse in Europa. Der europäische Kontinent, seine Rolle bei der Entstehung der modernen Welt und die Herausforderungen, mit denen er heute konfrontiert ist, bilden dabei den Schwerpunkt seiner politischen Analyse. Diese gibt Aufschluss über den Wandel in Mittel- und Osteuropa in den Jahrzehnten zwischen der ungarischen Revolution von 1956 und dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine im Jahr 2022. A

sh erinnert an den Mauerfall, er berichtet vom Jugoslawienkrieg und dem Flüchtlingsdrama und liefert eine profunde Analyse der neuesten europäischen Historie. Und er zeigt auf, warum es Sinn macht, »ein freies Europa zu verteidigen, zu verbessern und zu erweitern. Es ist eine Sache, die unsere Hoffnung lohnt.«

| DIETER KALTWASSER

Titelangaben
Timothy Garton Ash: Europa – Eine persönliche Geschichte
München: Carl Hanser Verlag 2023
448 S., 34 Euro

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Zwischen Sandsturm und Eisregen

Nächster Artikel

Zeit

Weitere Artikel der Kategorie »Sachbuch«

Aufbruch in den Favelas

Menschen | Adrian Geiges: Brasilien brennt Die BRIC-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China firmieren als »Schwellenländer«. Adrian Geiges hat Erfahrung mit diesen Staaten, er berichtete jahrelang aus China und Russland, gegenwärtig lebt er in Brasilien. Sein neues Buch Brasilien brennt enthält Reportagen, die er gelegentlich mit seiner Arbeit für deutsche TV-Anstalten verknüpft. Er wirft einen Blick auf den Confederation Cup 2013 – der Fußball-Sommer 2014 wirft seine Schatten voraus. Im Mittelpunkt steht für ihn jedoch die Begegnung mit den Menschen. Von WOLF SENFF

Das verlorene Meisterwerk

Sachbuch | Ulinka Rublack: Dürer im Zeitalter der Wunder

Im Jahr 1729 brannte die Münchner Residenz ab. Eines der dabei zerstörten Objekte war die Mitteltafel des Altars der Himmelfahrt und Krönung Mariens, geschaffen von Albrecht Dürer zwischen 1507 und 1509 im Auftrag des Frankfurter Kaufmanns Jakob Heller. Der Dürersche Teil des Altars, andere stammen von Mathias Grünewald, ist der Mittelpunkt in Ulinka Rublacks neuem Buch über den Nürnberger Künstler, seinen Mäzen und das Schicksal des Bildes. Heute ist dieser Teil des Heller-Altars nur als Kopie aus dem frühen 17. Jahrhundert von Jobst Harrich erhalten. Von DIETER KALTWASSER

Was uns Sinn gibt

Kulturbuch | Jean Pierre Wils: Kunst. Religion. Versuch über ein prekäres Verhältnis JOSEF BORDAT über den Versuch des Philosophen Jean Pierre Wils, das Verhältnis von Kunst und Religion zwischen Kompensation, Komplementarität und Konflikt zu bestimmen.

Verpuffter Aktivismus

Gesellschaft | Jan Philipp Albrecht: Finger weg von unseren Daten Der grüne EU-Parlamentarier Jan Philip Albrecht hat ein Plädoyer für mehr Datentransparenz geschrieben. Herausgekommen ist ein Buch, das an den parlamentarischen Strukturen scheitert. Von JAN FISCHER

Sie sind viele, sagt sie

Sachbuch | Millay Hyatt: Ungestillte Sehnsucht

»Wir sind viele« – so beginnt das Sachbuch ›Ungestillte Sehnsucht‹ von Millay Hyatt, das den Kinderwunsch ungewollt kinderloser Paare betrachtet. Es ist eine tendenziell politische Aussage, weil sich darin die Forderung nach mehr Aufmerksamkeit widerspiegelt. Dieses Schicksal sei nicht nur hart, es treffe auch mehr als man denkt. Von BASTIAN BUCHTALECK