Zeit

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Zeit

Komm Zeit, kommt Rat, sagte Tilman, Zeit vergeht, die Zeit heilt Wunden, lineare Zeit, sagte er, sei eine anthropozentrische Sichtweise, lebensnotwendig, unverzichtbar, sie habe einen Anfang und ein Ende und sei eine Krücke, an der man sich durch ein Leben bewege, überschaubar, eine Stütze, ein Werkzeug.

Mehr nicht, fragte Farb.

Mehr nicht, sagte Tilman.

Aber was, fragte Farb, sei die reale Struktur des Lebendigen, also die lineare Zeit einmal abgezogen.

Tilman tat sich eine Pflaumenschnitte auf und dazu einen Löffel Schlagsahne.

Und was bleibe denn übrig, fragte Farb.

Tilman mußte lächeln. Der Mensch sehe allein sich selbst, sagte er, und alles andere sei ihm übrig bleibender Rest, quasi wenig bedeutsam, jedoch sei diese Gewichtung falsch, es verhalte sich umgekehrt – das, was bleibe, sei die gigantische Hauptsache, neben der die menschlichen Angelegenheiten, so verworren sie derzeit sein mögen, eher winzigen Umfangs seien, eine Petitesse.

Und diese, wie du sagst, gigantische Hauptsache, fragte Farb, sie kenne keine Zeit.

Keine Zeit, die vergeht, sagte Tilman, das seien Dimensionen, die der Mensch auch nicht annähernd in der Lage ist, sich vorzustellen.

Farb überlegte, was er sich vorstellen solle unter einer Zeit, die nicht vergeht.

Annika blätterte in einem Reisemagazin.

Farb warf einen Blick auf das Gohliser Schlößchen.

Sonnenwinde, sagte Annika, die unendliche Leere.

Tilman lächelte.

Bewegung ohne Zeit, sagte er, ein nicht endender Tanz, unerschütterliche Stabilität der wiederholten Figuren, federleichte Rhythmen, Geschwindigkeit, ohne daß Zeit vergeht.

So wie die Rotation des Planeten, sagte Farb, sie vollziehe sich in rasendem Tempo, unvorstellbar schnell, eine Dimension titanischer Kräfte, und du merkst nichts davon, null, wie sei das möglich, und du, in aller Ruhe, gehst ungestört deinem Tagwerk nach. Farb lachte. Einen Tanz, sagst du, nennen wir das, so wie ein Tanz unveränderliche Schrittfolgen hat und jede Abweichung schmerzhaft ist, einen Tanz ohne Ende, jenseits aller linearen Zeit, und nein, da gäbe es nichts zu zählen und nichts zu messen.

Tilman schenkte Tee nach, Yin Zhen, sie hatten das Service mit dem Drachenmotiv aufgedeckt wie eigentlich immer, den zierlichen rostroten Drachen, er hatte es aus Beijing mitgebracht, er war dort einen Halbmarathon auf der Großen Mauer gelaufen.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf, dazu einen Löffel Schlagsahne, die er sorgfältig über den Kuchen verteilte.

Annika blätterte in ihrem Reisemagazin, dort wurden etliche Reiseziele vorgestellt, doch ihre Lust zu reisen war gering, der Zustand vieler Regionen war unkalkulierbar geworden, Hitze, Stürme, Wassermassen brachen über einst unberührte Gebiete herein, Millionen Menschen suchten Obdach und vagabundierten über den Planeten, ihr Leben war aus den Fugen, der Planet blieb ungerührt, ihm war das gleichgültig, er blieb unverrückbar eingebunden in seine zeitlosen Rhythmen.

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Farb warf einen Blick hinüber zum Gohliser Schlößchen, das unter blauem Himmel im milden Schein der Nachmittagssonne sanft glänzte. Er stand auf und zog die Terrassentür auf, es war ein angenehmer Apriltag, aber noch zu frisch, um draußen zu sitzen.

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