Zu den schönsten Ritualen der Kindheit gehört das Vorlesen. Martin Baltscheits Situationen dazu hat die wunderbaren Momente treffend eingefangen, findet ANDREA WANNER.
Martin Baltscheit, Jahrgang 1965, ist seit 1995 Autor, Illustrator, Sprecher, Regisseur – vermutlich seit irgendwann auch Vater. Aus der Sicht eines kleinen Mädchens wird erzählt, wo, wann und was ihr Papa vorliest. Das ist Extremvorlesen, schon auf dem Cover erkennbar. Dort marschiert der Vater mit der Tochter auf den Schultern vorlesend durch den Zoo. Die beiden würdigen Giraffe und Elefant, Schweinchen, Pinguin und den kleinen Vogel keines Blickes. Stattdessen wirken die Tiere durchaus fasziniert, schauen den beiden neugierig zu. Auf der Rückseite ist auch der Vater mit seinem Kind zu sehen. Die Szene ist ein paar Jahre vorher angesiedelt, ebenfalls im Zoo. Das Baby kuschelt sich im Tragetuch eng an ihn und er – liest vor.
Der Klassiker ist natürlich das abendliche Vorlesen, gemütlich zusammen ins Bett gekuschelt, mit all den vielen Stofftieren drum herum (wobei der Pinguin dem im Zoo verblüffend ähnelt). Das Vorlesen ist aber nicht schlichtes Lesen. Begeistert schildert das Mädchen: »Papa liest. Wie ein Schauspieler. Ein Hörspiel. Ein ganzes Theater.« Man sieht es. Es ist ein Ganzkörpereinsatz, Mimik und Gestik lassen nichts zu wünschen übrig, voller Einsatz wird gebracht. Und hätte uns das nicht schon überzeugt, so verrät sie noch, dass er allen Rollen auch mit seiner Stimme gerecht wird. Es ist eine wunderbare Seite im Buch, in der sich auf einer Bildergalerie mit neun Porträts der Vater in seine gelesenen Rollen verwandelt. Als Frosch und Fliege mit einer langen, klebrigen Zunge, die das Insekt fängt. Als Mädchen mit rosa Blüschen und braven Zöpfen, als Pirat mit grimmiger Miene und Augenklappe, einen Papagei auf einem goldenen Ring im Ohr … Er liest und liest und liest. Überall und zu jeder Zeit.
Er schafft es, die Figuren aus den Büchern zum Leben zu erwecken, sie zu Freunden seiner Tochter zu machen. Sein Vorlesen kennt kein Ende, immer noch ein Buch und noch eines, auch wenn die Kleine schon gar nicht mehr zuhört.
Er ist Leser und Vorleser, Büchernarr und Bücherfreund. Die bunten, vergnügten und auch mal weniger heiteren Szenen wirken mit leichter Hand zu Papier gebracht. Sie zeigen ihn in Bücher versunken, sie lesend teilend, die Begeisterung für Literatur auch bei seiner Tochter weckend. Toll, wenn der Funke überspringt. Und dafür gibt es nun mal kein besseres Rezept als das Vorlesen. Bei einem Blick in die Zukunft träumt sich die Kleine groß und als Vorleserin. Für ihren Vater: »Und wenn ich groß bin, lese ich zurück.« Was für großartige Aussichten!
Titelangaben
Martin Baltscheit: Papa liest vor
München: dtv 2023
48 Seiten, 16 Euro
Bilderbuch ab 4 Jahren
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