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Fragen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Fragen

Der Mensch sei Publikum, sagte Farb, er sitze in einem Kino.
Annika mußte lachen. Wie erfrischend, erklärte sie, daß Farb seinen Humor nicht verloren habe.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm die Schale mit Schlagsahne, eine zierliche, an den Rändern durchbrochene Schale mit Rosenmotiv, sie stammte aus einer Haushaltsauflösung, er hatte sie bei einem Trödler erworben.

Farb nahm sich einen Löffel Sahne und strich sie sorgfältig glatt.
Das sei jedoch nicht ganz richtig, korrigierte er sich, denn er sitze nicht trocken und behaglich im Kinogestühl, sondern finde sich nolens volens in einem dramatischen Geschehen.

Annika warf einen Blick zum Gohliser Schlößchen.

Nein, er habe keinen Einfluß auf die Regie, null, sagte er, die Chance habe er verpaßt, dafür sei er nicht helle genug, unser vielgepriesener Homo sapiens, er habe das Unheil wohl heraufziehen sehen, doch er habe viel Zeit verstreichen lassen, und wer zu spät komme, den, wie man wisse, strafe das Leben.

Nun stecke er mittendrin, sagte Tilman.

Nun stecke er mittendrin, sagte Farb, und sei felsenfest davon überzeugt, die Ereignisse aufhalten zu können, er bilde sich eine Menge auf kreative Lösungen ein.
Regie, fragte Tilman, wer führe Regie.

Darauf sei schwierig zu antworten, sagte Farb, der Mensch sei auf eine Verlockung hereingefallen und arglistig in die Irre geführt worden.

Annika blätterte in ihrem Reisemagazin.

Und auch ein Zeitpunkt, wann dieser Irrweg eingesetzt habe, sei nicht zweifelsfrei zu bestimmen, zumeist halte man den Übergang vom Segeln zur Dampfschiffahrt für den maßgeblichen Wendepunkt.

Tilman griff zu einem Vanillekipferl, sie hatten, seitdem die Preise für Vanille beträchtlich gestiegen waren, ihren angenehmen Geschmack verloren und waren fad geworden, überdies hatte er seit Wochen keine Vanillekipferl mehr in den Auslagen gesehen.

Der Wandel vom Segel- zum Dampfschiff sei ein einschneidender Schritt gewesen, darin gäbe er Farb recht, und aus den Details ließe sich eine Menge über die Beweggründe entnehmen.

Er rückte näher an den Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.
Die Commandeure der Windjammer hatten sich auf den großen Ozeanen zu Hause gefühlt, sagte er, in den vielstimmigen Melodien der Winde, und trotzten den Stürmen, hielten respektvoll Abstand zu den bedrohlichen Flauten der Roßbreiten und wußten sich nördlich und südlich des Äquators klug nach den Passat- und Westwindregionen zu orientieren, sagte er, welterfahrene, widerständige Kapitäne, die auch eine Passage über Kap Horn nicht abschrecken würde.

Farb nahm ein zweites Stück von der Pflaumenschnitte, tat sich einen Löffel Schlagsahne auf und strich sie sorgfältig glatt.

Annika warf ihm einen skeptischen Blick zu.

Mit den Dampfschiffen, sagte Tilman, sei die Zeit der Fahrpläne angebrochen, der Dampfer war nicht in die natürlichen Abläufe integriert, nicht daß er sich darüber hinweggesetzt hätte, nein, die Abläufe spielten scheinbar keine besondere Rolle mehr, der Dampfer balancierte nicht anmutig inmitten von Stürmen und brausenden Wogen wie zuvor die Windjammer, sondern er bahnte sich brachial seinen Weg, dröhnend und stinkend, der Kompaß gab die Richtung vor, schnurgerade, unerbittlich, der Mensch hatte die feinen, verschlungenen Rhythmen der Natur überwältigt oder, falls man das anders sagen wolle, hatte sich seiner Wurzeln entledigt, sie leichtfertig preisgegeben.

Farb nickte, der Mensch, sagte er, habe den Irrweg betreten.

Aber wer, wiederholte Tilman, führe Regie, und erinnerte an die unter dem Geschrei von Wachstum und Fortschritt erfolgten technologischen Revolutionen, die sämtliche Abläufe rapide beschleunigt und den Alltag massiv verändert hätten.

Der Planet werde zu einem Kriegsschauplatz, sagte Farb, und der Mensch tue sich wichtig, immer schon mit breiter Brust, doch er habe ausgespielt, aus tiefsten Abgründen von Ort und Zeit kröchen nun wieder die titanischen Mächte, gigantische Dimensionen täten sich auf, Feuersbrünste, Orkane, Erdbeben, Überflutungen, ein Planet in Kampfbereitschaft, weit jenseits aller vertrauten Abläufe, nein, der Mensch spiele keine Rolle mehr, seine Existenz habe in einer Nische stattgefunden, die ihm von einer wohlmeinenden Natur ans Herz gelegt war, ein Sekundenschlag der Ewigkeit, mehr nicht, und aus, vorbei.
Keine Regie, fragte Tilman, und die vernichtenden technologischen Revolutionen sollen nicht Teil eines Plans gewesen sein, keine heimtückische Falle, sondern Zufall, nein, Hagel und Granaten, das glaube er nicht.

Gewiß, sagte Farb, wir sehen destruktive Energien, dämonische Kräfte, Titanen, sagte er, das Maschinenwesen, ein ständiger Störenfried, fordere die Gewalten einer harmonisch balancierten Natur heraus.
Annika schwieg.

Tilman schien nicht überzeugt und schenkte sich Tee nach, Yin Zhen.

| WOLF SENFF

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TITEL | Textfeld: Wolf Senff: Grönland

Sie reden vom Klimawandel, sagte Farb, und schwadronieren von seinen angeblich positiven Seiten.

Die USA haben die Insel käuflich erwerben wollen.

Ein schlechter Witz, spottete Farb, in welchen Zeiten leben wir.

Es gab sogar wiederholte Angebote.

Sie firmiert als größte Insel des Planeten, Tilman, ist zu achtzig Prozent mit einem Eisschild bedeckt, schmale Küstenstreifen sind besiedelt, doch die Temperaturen steigen und Eis schmilzt, Bodenschätze werden vermutet, seltene Erden, jeder sucht seltene Erden, da herrscht kein Mangel an Investoren.

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TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Schwermut

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