Wie beginnen Geschichten? Ganz einfach: mit einer weißen Seite. Da ist noch nichts, rein gar nichts. Und dann muss etwas passieren, sonst wird es keine Geschichte. Über das, was dieses »Etwas« ist, kann man geteilter Meinung sein. ANDREA WANNER fand die Geschichte über die Entstehung einer Geschichte hinreißend.
Es beginnt also mit einer weißen Seite, genauer gesagt einer weißen Doppelseite, auf der oben links genau ein Satz zu lesen ist: »Es war einmal eine weiße Seite.« Einmal umgeblättert geht es schon los: Fünf possierliche kleine Figuren betreten die Szene, links unten ein rosafarbenes Häschen mit einem Rucksack, neben ihm ein nilpferdähnliches Tier mit Brille, über dessen Kopf drei Fragezeichen schweben, drei weitere Kumpane auf der rechten Buchseite.
Vier von ihnen wirken ziemlich verwirrt ob der unübersichtlichen Situation, wissen nicht, wo sie sind und was sie hier sollen. Der Typ mit Brille bietet eine Lösung an: »Ich glaube, wir sind in einem Buch.« Okay, wenn das so ist, dann müssen sie, erklären die drei anderen, jetzt eben auf die Geschichte warten. Und das tun sie, ähnlich wie seinerzeit Wladimir und Estragon, nur eben als Vierergruppe. Nur der Hase hat sich nicht an der Diskussion beteiligt. »Spielen wir was?«, will er von den anderen wissen. Aber die bügeln ihn glatt ab und sagen, sie hätten keine Zeit, schließlich würden sie auf die Geschichte warten.
Während die anderen warten, erklärt das Langohr, dass ihm das zu langweilig sei. Er beginnt, Stifte aus seiner Tasche zu packen und wird selbst aktiv. Da entstehen auf dem Papier ein Baum, Vögel, ein Dino, eine Schaukel, ein Eichhörnchen. Strich um Strich wird die linke Seite gefüllt, während es rechts ziemlich öde zugeht. Dann kackt den Wartenden auch noch ein Vogel auf den Kopf und eine dunkle Wolke – aus der Feder des Hasen – braut sich über ihnen zusammen. Da lockt die bunte Häschenwelt schon sehr. Irgendwann sind sie drüben und alles ist gut. Und dann kommt die Geschichte um die Ecke …
Marianna Coppo hat mit viel Witz und minimalen Mitteln ein herrliches Bilderbuch gestaltet, dass Fragen aufwirft und Antworten anbietet. Was ist eine Geschichte? Was braucht sie? Und was nicht? Ein paar Farbstifte und eine Portion Fantasie scheinen zu genügen. Unsere fünf Helden sind damit glücklich. Und alle, die mit ihnen gewartet haben, auch.
Titelangaben
Marianna Coppo: … aber wo ist die Geschichte
(Una storia molto in ritardo, 2018)
Aus dem Italienischen von Ulrike Schimming
Münster: Bohem Press 2023
48 Seiten, 18 Euro
Bilderbuch ab 3 Jahren