Erinnere dich!

Roman | Zoë Beck: Memoria

Zoë Becks neuer Roman Memoria spielt wie schon ihre beiden letzten Bücher – Die Lieferantin (2017) und Paradise City (2020) – in naher Zukunft. Die Folgen des Klimawandels haben die Welt fest im Griff. Heiße Sommer mit zahlreichen Waldbränden und   Wasserknappheit machen auch das Leben in Deutschland immer komplizierter. Für Harriet Laurent, deren einst verheißungsvolle Karriere als Konzertpianistin durch eine Handoperation ihr jähes Ende fand und die sich aktuell als Klavierstimmerin und Mitarbeiterin einer Sicherheitsfirma durch ihr prekäres Leben schlägt, verändert ein nicht fahrplangemäßer Halt auf der Zugreise von Frankfurt nach Gießen alles. Plötzlich muss sich die junge Frau fragen, ob es noch ihr Leben ist, an das sie sich zurückerinnert. Denn immer mehr Bruchstücke aus einer Vergangenheit, mit der sie nichts gemein zu haben scheint, tauchen zunächst in ihren Träumen, dann aber auch nach und nach in der sie umgebenden Realität auf. Von DIETMAR JACOBSEN

Harriet Laurent heißt die Hauptfigur in Zoë Becks aktuellem Roman Memoria. Eine Operation an ihrer Hand hat einst die vor der damals17-Jährigen liegende große Zukunft als Konzertpianistin zerstört. Inzwischen lebt sie in einem ehemaligen Frankfurter Bürogebäude, wo sie sich die Miete gerade noch leisten kann, arbeitet als Klavierstimmerin und, weil das zu wenig einbringt, zusätzlich noch für einen der vielen privaten Sicherheitsdienste. Die haben in einer Welt, in der an den dunklen Abenden nur noch in den Wohnungen der Reichen Licht brennt, während für alle anderen die elektrische Energie rationiert wird, mehr als genug zu tun. Einbrüche und Überfälle sind an der Tagesordnung, die Strafen für diejenigen, die nicht nur von einem besseren Leben träumen, sondern bereit sind, sogar die Gesetze dafür zu brechen, hoch.

Wer ist Harriet Laurent?

Harriets Leben ändert sich dramatisch, als der Zug, mit dem sie gerade von Gießen, wo sie einem Arbeitsauftrag nachgekommen ist, zurück nach Frankfurt fährt, durch die Folgen eines sich schnell ausbreitenden Waldbrands gestoppt wird. Eine sich in der Nähe befindende Seniorenresidenz muss aus Sicherheitsgründen geräumt werden. Und während Harriet mit anderen Passagieren aus der Entfernung zusieht, wie die alten Menschen hastig aus ihrem Domizil und zu abfahrbereiten Bussen gebracht werden, entdeckt sie hinter dem Fenster eines unweit stehenden einzelnen Hauses eine verzweifelte ältere Frau, die offenbar vergeblich einen Weg ins Freie sucht.

Mit zwei anderen Passagierinnen macht sie sich auf, die Eingesperrte zu retten. Und muss plötzlich feststellen, dass es ihr keinerlei Probleme bereitet, den SUV der Frau bis zum nahe gelegenen Notfallzentrum zu steuern, obwohl sie sich ziemlich sicher ist, gar keine Fahrerlaubnis zu besitzen. Doch da hat sie sich geirrt, wie ihr eine Beamtin klarmacht, als sie auf einer Polizeistation den Verlust ihrer sämtlichen Papiere meldet. Und es ist nicht das Einzige, was sie vergessen zu haben scheint. Denn nach und nach erreichen sie Informationen aus einer Vergangenheit, von der sie glaubt, dass es nicht die ihre sein kann.

Eine Reise in die eigene Vergangenheit

Eine Reise nach München, wo Harriet ihre Kindheit und Jugend verbrachte und das Haus ihrer Eltern steht – die Mutter, Professorin für klinische Psychologie, ist nach einem Unfall verstorben, der Vater, einst ein sehr bekannter Galerist und weniger bekannter Künstler, leidet an Demenz und ist in einem privaten Sanatorium untergebracht –, soll sie wieder fester im Hier und Jetzt verankern. Doch auch da, wo 15 Jahre früher ihr Lebensmittelpunkt war, kennt sie sich plötzlich nicht mehr aus. Auf dem Abiturbild ihrer einstigen Klasse ist sie nicht zu sehen – hat sie das Gymnasium nicht beendet? Und während sie sich sogar noch an die Themen der Abiturprüfungen glaubt erinnern zu können, muss sie auf der Internetseite der Schule lesen, dass ihre Eltern sie offensichtlich kurz vor den Prüfungen von der Schule genommen haben, um mit ihr Hals über Kopf nach Frankfurt zu ziehen.

Nach und nach entwickelt Zoë Beck aus dieser erzählerischen Grundkonstellation – eine junge Frau sucht die Menschen und Stätten ihrer Kindheit und Jugend auf, um sich ihrer Identität zu versichern – eine Kriminalgeschichte. Harriet wird heimgesucht von Gewaltvisionen, in denen sie die Täterin ist. Ihre Handverletzung, die sie zwang, das Klavierspiel einzuschränken, entpuppt sich als Bruch infolge von brutaler Gewaltanwendung. Immer wieder begegnet sie einem im Rollstuhl sitzenden Mann, von dem Bedrohliches auszugehen scheint.

Ins Haus ihrer Eltern, von dem sie bisher glaubte, es sei beim Umzug nach Frankfurt verkauft worden, wird eingebrochen. Sie selbst wird das Opfer eines mörderischen Überfalls auf offener Strafe. Der freundliche Mann eines Sicherheitsdienstes, der sich ihrer ein wenig annimmt, findet sich nach einem weiteren Anschlag auf Harriets Leben im Krankenhaus wieder. Und einige ihr von früher her nahen Personen machen auf sie den Eindruck, sie wünschten sie am liebsten so weit weg wie nur irgend möglich. Als Harriet schließlich durchschaut, warum ihre Erinnerungen nicht mit dem übereinstimmen, was sie tatsächlich einst erlebt hat, und welche Rolle ihre Mutter dabei spielte, ist es fast zu spät für sie.

Fragen der Gegenwart in dystopischem Gewand

Zoë Beck hat in ihre Hauptfigur einiges aus ihrem „ersten Leben“ hineingeschrieben. Auch Henrike Heiland – in Zoë Beck benannte sich die 1975 Geborene nach einer überstandenen Krebserkrankung im Jahr 2007 um – begann schon als dreijähriges Mädchen mit dem Klavierspielen. Frühe Auftritte und Preise bei Wettbewerben legten eine Karriere als Pianistin durchaus nahe. Doch spätestens mit dem Namenswechsel, den sie selbst als Startschuss in ein neues Leben begriff, und befördert durch ein paar individuell nicht steuerbare Zufälle wurde aus der Fast-Pianistin die erfolgreiche Schriftstellerin, Übersetzerin, Verlegerin und Synchronregisseurin, als die man Zoë Beck heute kennt.

Und die mit Memoria erneut einen Roman publiziert hat, der drängende Fragen unserer Gegenwart im Rahmen einer in die nahe Zukunft verlegten Geschichte behandelt.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Zoë Beck: Memoria
Berlin: Suhrkamp Verlag 2023
281 Seiten. 16,95 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Zoë Beck in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ein guter Fang

Nächster Artikel

Der Dichter der Shoah

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Morgen früh auf dem Heldenplatz

Roman | Elisabeth De Waal: Donnerstags bei Kanakis Der Roman Donnerstags bei Kanakis wurde zu Lebzeiten der Autorin Elisabeth De Waal nie publiziert, gelangte jedoch nach ihrem Tod als vergilbtes Typoskript in die Hände ihres Enkels. Nun wurde das ausdrucksvolle zeitgeschichtliche Porträt der Wiener Nachkriegszeit erstmals veröffentlicht. Von INGEBORG JAISER

Ohne Anfang, ohne Ende

Roman | Andreas Maier: Der Kreis »Ich erzähle keine Geschichte. Ich erzähle eher so etwas wie eine persönliche Ideengeschichte, die Ideengeschichte eines Menschenlebens«, erklärte Andreas Maier kürzlich in einem Interview nach Erscheinen seines neuen Romans Der Kreis. Es ist der fünfte von insgesamt elf geplanten Bänden eines stark autobiografischen Mammut-Epos‘. Nun erzählt der 49-jährige Andreas Maier wie der »Problem-Andreas« aus der Wetterau (ein Landstrich in Mittelhessen) in Kinder- und Jugendtagen seine ersten Begegnungen mit der Literatur erlebt hat. Von PETER MOHR

Junges Mädchen als Geist

Roman | Astrid Rosenfeld: Elsa ungeheuer Astrid Rosenfelds zweiter Roman Elsa ungeheuer. Eine Rezension von PETER MOHR

Aus der Rolle fallen

Roman | Véronique Olmi: Der Mann in der fünften Reihe Kunstsinnig, feinsinnig kommt dieser kleine, aber kraftvolle Roman von Veronique Olmi daher. Ein bewegendes Kammerspiel auf offener Bühne. Wie kann Der Mann in der fünften Reihe einer Schauspielerin solch nachhaltigen Schrecken einjagen, solch existentielle Furcht einflößen, dass sie sich selbst verloren geht? Von INGEBORG JAISER

Der Papst ist tot – es lebe die Intrige

Roman | Robert Harris: Konklave Wer ist oben, wer ist unten in der Welt? Wer hat die Macht, wer lechzt nach ihr und wer fällt ihr zum Opfer? Das sind Fragen, die Robert Harris von jeher interessieren. Und er kleidet sie in bunte, abenteuerliche Gewänder, erfindet zwischen ihren Trägern – ob sie nun im faschistischen Deutschland, im alten Rom oder im stalinistischen Russland agieren – spannende Konflikte und verkauft das Ganze an Millionen Leser in aller Welt. Robert Harris’ ›Konklave‹ – eine Besprechung von DIETMAR JACOBSEN