/

Gohlis

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Gohlis

Wir beneiden sie nicht, die drei auf ihrer Terrasse in Sichtweite des Gohliser Schlößchens.

Nein, Gramner, wir beneiden sie nicht, keineswegs.

Am Ende der Welt, sie müssen sich fühlen, als erlebten sie das Ende der Welt.

Zurecht, Gramner, zurecht, ihre Welt geht dem Ende entgegen.

Es wird ebenso unsere Welt gewesen sein.

Der Walfang ist unsere Welt, Gramner, die Ojo de Liebre, wir sind mittendrin, sagte Pirelli, und einen Katzensprung nach Norden wird gierig nach Gold geschürft, in Frisco tobt ein Mordsspektakel, dort herrscht Aufbruch, die Immigranten strömen aus allen Teilen der Welt.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Der Ausguck stand auf, tat einige Schritte und löste sich in die Dunkelheit auf.

Was hatte der nur immer mit seinem Salto, fragte sich Crockeye.

Aufbruch, sagte Pirelli, Aufbruch bedeute, daß dieser Kontinent kolonisiert werde, die Western Union werde gegründet, die Union Pacific, die Bahngleise würden über Tausende Kilometer bis zum Pazifik verlegt, das seien jedoch nichts als weitere Schritte auf dem Irrweg.

Er verstehe das nicht, sagte Harmat, was bedeute das: Aufbruch.

Der Mensch, sagte Pirelli, ergreife Besitz vom Planeten, mit der Eisenbahn mache er ihn sich verfügbar, eigne sich dessen Schätze an, plündere ihn und feiere das als einen Triumph, als einen Gewinn, jeder kenne die Zustände in Frisco, ein Rausch des Erfolgs laste schwer über der Stadt und führe immer wieder ins Elend, die Vigilanten machten sich breit, nein, Glück buchstabiere sich anders.

Ob das also ein zweischneidiger Zustand sei, fragte Harmat.

Das könne man so sehen, sagte Gramner, doch die Stimmung eines Aufbruchs sei erwartungsvoll, vielversprechend, sie werde von Hoffnung getragen.

Anfangs, sagte Harmat.

Anfangs, sagte Gramner.

Der Ausguck schälte sich aus der Dunkelheit.

Crockeye schwieg.

Touste schlug Akkorde auf seiner Gitarre an.

Thimbleman summte eine Melodie.

LaBelle hätte gern eine Kleinigkeit gegessen.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Ob der Mensch in eine Falle tappe, fragte Harmat.

Nein, eher nicht, sagte Gramner, er falle einer falschen Hoffnung anheim und täusche sich selbst.

Und was habe das nun mit den dreien auf der Terrasse in Gohlis zu tun, fragte Harmat.

Die Aufbruchsstimmung sei dahin, sagte Gramner, sei längst vergangen, sagte Gramner, alles triumphalistische Gejohle sei ad acta gelegt, ein schwacher Reflex bilde sich ab im verklingenden Echo der Spaßgesellschaft, aber Aufbruch, nein, das sei auf der Terrasse in Gohlis kein Thema, der Rausch sei der Ernüchterung gewichen, der Mensch gebe sich pragmatisch, was auch sonst, seine hehren Ziele seien gestrandet, und alle Versuche, eine Renaissance des Aufbruchs einzuleiten, seien fehlgeschlagen.

Die drei in Gohlis seien eine traurige Hinterlassenschaft nach Jahrhunderten der Euphorie, konstatierte Harmat.

Das sei der geringere Teil, sagte Gramner, der große Rausch habe unermeßlichen Schaden angerichtet, unübersehbar, der Planet sei geplündert, ausgebeutet, heruntergewirtschaftet, weit mehr noch, er sei vermüllt, verdreckt, seine Böden seien verseucht, die Luft zu atmen sei vergiftet, Krankheiten breiteten sich unter den Lebewesen aus, der Mensch führe schreckliche Kriege.

Ob die drei das nicht aufhalten könnten, fragte Harmat, sie wirken doch sehr vernünftig.

Zu spät, sagte Gramner, es sei zu spät, auf den großen Rausch kündige sich ein vernichtender Kater an, der Planet liege in Fieberzuständen, leide hier unter Hitze, dort unter Kälte, die drei in Gohlis, ohnmächtig, warteten gefaßt auf das Ende.

Harmat lächelte. Wie angenehm, sagte er, verschont zu sein.

Fürs erste, sagte der Ausguck.

Eine andere Zeit, sagte Harmat.

Abgelegen sei sie, die Ojo de Liebre, und friedlich, sagte London.

Die Tage ließen sich ertragen, sagte Rostock.

Ein Idyll, sagte LaBelle.

Crockeye schwieg.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die Tradition des Zen

Nächster Artikel

Tierische Liebesgeschichte

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Reader

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Reader

Sie habe es einmal ausprobiert, ja, sagte Anne, ein einziges Mal, und es habe sich nicht gut angefühlt, sie sei bereits im Vorwege skeptisch gewesen, ein Bauchgefühl, gewiß, aber im Endeffekt sei die Innovation nicht zeitsparend.

E-Books ließen sich heute auf ganz unterschiedlichen Endgeräten aufrufen, sagte sie, doch nach wie vor würden E-Book-Reader angeboten, sie habe das selbst erst lernen müssen, es herrsche ein immenses Durcheinander, und es werde immer wieder Neues entwickelt, der Fortschritt nehme einfach kein Ende.

Manches sei verwirrend, sagte Farb, und manches andere erweise sich als Sackgasse.

Einfühlung und Analyse

Kurzprosa | Dieter Wellershoff: Im Dickicht des Lebens Ein neuer Band mit Erzählungen ist pünktlich zum 90. Geburtstag von Dieter Wellershoff am 3. November erschienen. Gelesen von PETER MOHR

Vorgeblättert

Kurzprosa | Literaturkalender 2024

Wer möchte nicht gern in die Zukunft blicken? All die kommenden Freuden, Überraschungen, Begebenheiten voraussehen? Zu den Geschenken, die man sich selbst oder anderen bereiten kann, zählt immer ein Kalender für das kommende Jahr. Geschmückt mit literarischen Zitaten und anregenden Texten liegt des Leseglück schon jetzt in unserer Hand. INGEBORG JAISER stellt einige bemerkenswerte Literaturkalender vor.

Verkehrt

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Verkehrt

Das könne er nicht ernst meinen, sagte Harmat.

Sei dir sicher, ihm ist nicht nach Witzen zumute, entgegnete Bildoon und legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Es gehe um Zukunft, sagte Touste.

Die Zukunft, von der er spreche, liege in weiter Ferne, sagte Rostock und starrte in die Flammen.

Alternativ

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Alternativ

Nein, ganz und gar nicht, null, wehrte Tilman ab, er werde keineswegs darauf verzichten, die Kultur des alten Ägypten heranzuziehen, weshalb, wir müßten lernen, die Gegenwart aus gebührender Distanz wahrzunehmen, Distanz sei hilfreich.

Anne schenkte Tee nach.

Farb griff zu einem Keks.

Sich ausschließlich mit dieser Kultur zu befassen, wandte Farb ein, das werde auf Dauer eintönig.

Die drei Jahrtausende seien in höchst verschiedene Abschnitte unterteilt, in drei Reiche mit jeweils Zwischenzeiten, einer Spätzeit und einigen Jahrzehnten, von denen wir heute wohl sagen würden, das Land habe unter fremder Herrschaft gestanden, es sei besetzt gewesen.

Klingt kompliziert und höchst lebendig.

Interessant, sagte Anne, und ob man daraus lernen könne.