Am 3. Juni 1924 starb einer der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts: Franz Kafka. Bis in die Gegenwart hinein hat sein Werk nichts an seiner Faszination verloren, in beeindruckenden Schilderungen und Metaphern führt es uns durch die Absurditäten und Düsternisse der modernen Welt. Sein Name wurde zum Adjektiv »kafkaesk« und Synonym für das Groteske und Labyrinthische des Lebens. Er veröffentlichte einige seiner Werke zu Lebzeiten, darunter ›Der Prozess‹ und ›Die Verwandlung‹, die mit den Worten beginnt: »Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.« Kaum einer der ersten Sätze der Weltliteratur ist berühmter als dieser. Von DIETER KALTWASSER
Safranskis neues Buch ›Kafka – Um sein Leben schreiben‹, so erfährt der Leser gleich zu Beginn, verfolge nur eine einzige Spur im Leben des Schriftstellers, und es sei die eigentlich naheliegende: Das Schreiben selbst und sein Kampf darum.« Kafka selbst sagte über sich: »Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.« In den herausgehobenen Zuständen des Schreibens fühlte er sich erst wirklich lebendig; »ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns«. Diese Selbstbeschreibung findet sich in seinem Brief an seine Verlobte Felice Bauer vom 14. August 1913. Er will sie damit warnen, schreibt Safranski: »Schreiben ist für ihn keine schöne Nebensache, kein Ausgleich für die Belastungen im Berufsgeschäft. Er interessiert sich nicht für Literatur, er ist Literatur, ganz und gar.«
Kafka notiert am 19. Februar 1911 im Tagebuch: »Zweifellos bin ich jetzt im Geistigen der Mittelpunkt von Prag.« Doch der große Erfolg seines Werks stellte sich erst posthum ein. Seine erste Buchveröffentlichung »Betrachtung« im Jahre 1912, eine Sammlung kurzer Texte, fällt in eine Lebensperiode des Schriftstellers, »für die sich deutliche Spuren eines gesteigerten literarischen Selbstwertgefühls finden lassen«, heißt es bei Safranski. In der Nacht vom 22. auf den 23. September 1912 gelingt es ihm, seine erste große Erzählung in einem Zug niederzuschreiben: ›Das Urteil‹.
Rüdiger Safranski hat preisgekrönte Biographien über Schriftsteller und Philosophen geschrieben, zuletzt erschienen: ›Hölderlin. Komm ins Offene, Freund!‹ (2019) und ›Einzeln sein‹ (2021), in welchem es zu Beginn heißt: »Jeder ist ein Einzelner. Aber nicht jeder ist damit einverstanden und bereit, etwas daraus zu machen.« Kafka ging diesen Weg als Schriftsteller und er war in Prag als promovierter Jurist zudem in der ›Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt‹ tätig.
Kafka wuchs im Milieu des assimilierten Judentums auf. Sein Vater Hermann Kafka »war als Sohn eines jüdischen Fleischhauers in ärmlichen Verhältnissen in Böhmen aufgewachsen, in den siebziger Jahren nach Prag gekommen, wo er die aus einer finanziell gutgestellten rabbinischen Familie stammende Julie Löwy heiratete«, erfährt der Leser von Safranski. Für den Vater habe die Religion nur insofern eine Rolle gespielt, »als sie den familiären Zusammenhalt förderte […].« Charakteristisch sei für ihn »ein robuster Realismus gewesen«. Hermann Kafka wurde wirtschaftlich erfolgreich und erwartete von seinem Sohn die Fortsetzung des sozialen Aufstiegs. Dessen literarische Leidenschaft waren für ihn nur »ablenkende Spielereien« und ein Zeichen von »Lebensuntüchtigkeit«.
Jeder, der sich intensiver mit Kafkas Werk beschäftigt, wird an jenem hundertseitigem ›Brief an den Vater‹, den er 1919 schrieb und der seinen Empfänger nie erreichen sollte, nicht vorbeikommen. Er war, so erfahren wir von Safranski, »empfindlich gegenüber der banausischen Geringschätzung der Literatur. ›Leg es auf den Nachttisch‹, sagte der Vater, als sein Sohn ihm einen seiner wenigen veröffentlichten Texte überreichte. Seine Antwort war der monströse ›Brief an Den Vater‹.«
In Walter Benjamins Essay ›Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages‹ heißt es: »Kafka verfügte über eine seltene Kraft, sich Gleichnisse zu schaffen. Trotzdem erschöpft er sich in dem, was deutbar ist, niemals, hat vielmehr alle erdenklichen Vorkehrungen gegen die Auslegung seiner Texte getroffen. Mit Umsicht, mit Behutsamkeit, mit Misstrauen muss man in ihrem Inneren sich vorwärtstasten.« Genau diesen Rat befolgt Safranski. Er beobachtet in seinem neuen herausragenden und brillant geschriebenen Buch einen solitären Schriftsteller der Weltliteratur beim Schreiben, und in dessen Briefen liest er von den Augenblicken des Glücks, die Kafka am Schreibtisch erlebte und von den Momenten, in denen ihm die Welt vollkommen fremd wurde.
Safranski zeichnet in seinem Buch eindrücklich Kafkas Beziehungen zu Frauen nach, denen dieser viele Briefe schrieb, auch, so Safranski über seinen Protagonisten, um als »Held der erotischen Handlungshemmung« tatsächliche Begegnungen zu vermeiden. Mit Felice Bauer, die er in der Wohnung von Max Brod, seinem engsten Freund, erstmals traf, löste er zwei Verlobungen wieder auf. Daraufhin bemühte er sich um deren Freundin Grete Bloch und ein langer Briefwechsel war die Folge. Auch mit Julie Wohryzek war er verlobt. Er hatte Julie in der Pension eines Kurortes kennengelernt, sie war dort wie Kafka wegen einer Tuberkuloseerkrankung in Behandlung.
Doch der »Schreib-Mensch« drängt den »Heirats-Mensch« beiseite, so Safranski, und das Aufgebot wird abbestellt. Er blieb mit Julie verbunden, bis im Jahr darauf die Liebesgeschichte mit Milena Jesenská begann, die sich wiederum von ihrem Ehemann nicht trennen konnte. Die 24-jährige Übersetzerin hatte bereits ein bewegtes Leben hinter sich, »als sie Ende 1919 Kafka in einem Prager Café darum bat, den ›Heizer‹ ins Tschechische übersetzen zu dürfen.« Als er zur Kur in Meran war, »entwickelt sich die stürmische Liebesgeschichte mit Milena, zunächst wieder nur in Briefen, wie damals bei Felice,« vermerkt Safranski in seinem Buch, »auch hier ist sein Schreiben wirksam bei »[der] allmählichen Verfertigung der Liebe beim Schreiben«, wandelt er einen Gedanken von Heinrich von Kleist treffend um.
Erst als sich Max Brod nach dem Tod seines Freundes über dessen testamentarische Verfügung hinwegsetzte, begann der Erfolg. In der letzten Verfügung steht: »Von allem was ich geschrieben habe gelten nur die Bücher: Urteil, Heizer, Verwandlung, Strafkolonie, Landarzt und die Erzählung: Hungerkünstler. (Die paar Exemplare der ›Betrachtung‹ mögen bleiben, ich will niemandem die Mühe des Einstampfens machen, aber neu gedruckt darf nichts daraus werden).« Alles andere sei – am liebsten ungelesen – zu verbrennen. Die Geschichte des Prozesses um den Nachlass des Schriftstellers ist selbst kafkaesk und könnte als ein Kafka-Roman erzählt werden.
Am Fuß des Grabsteins von Franz Kafka auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Prag lehnt eine Gedenktafel, die an Elli, Valli und die Lieblingsschwester Ottla erinnert, die zwischen 1942 und 1943 in den Vernichtungslagern Chelmno beziehungsweise Auschwitz-Birkenau ermordet wurden.
Kafkas Familie – Ein Fotoalbum. Mit Texten von Franz Kafka
Der Herausgeber des Fotoalbums Hans-Gerd Koch ist Literatur- und Editionswissenschaftler und seit vielen Jahren für die Kritische Kafka-Ausgabe des S. Fischer Verlags verantwortlich, unter anderem als Herausgeber der fünfbändigen Briefausgabe. Franz Kafka schrieb einmal in sein Tagebuch: »Ich lebe in meiner Familie, unter den besten liebevollsten Menschen fremder als ein Fremder. […] Für die Familie fehlt mir jeder mitlebende Sinn.« Man glaubt, schreibt Koch in seinem Vorwort, »Einblick in ein gestörtes oder zerrüttetes Verhältnis zu bekommen.« Verfolge man jedoch seine Äußerungen in ihrer Gesamtheit bis zu seinem frühen Tod, werde deutlich, »wie falsch dieser Eindruck ist und dass man einmal mehr auf Kafkas Spiel von Methode und Wahrheit hereingefallen ist.« Eine Methode, die er gebrauche, wenn ihn eine Person oder eine Sache zu sehr in ihren Bann ziehe. Als Beispiele nennt er »die negativen Äußerungen über Felice Bauer, die er nach seiner ersten Begegnung in sein Tagebuch schreibt, während er zur selben Zeit verzweifelt nach den richtigen Formulierungen für seinen ersten Brief an diese Frau sucht, von der er so fasziniert ist.«
Vom »gesellschaftlichen Aufstieg einer jüdischen Familie aus einfachen ländlichen Verhältnissen zum Prager Bürgertum« erzählen die Fotos ebenso wie von den Befindlichkeiten ihrer Familienmitglieder. Man hat etwas erreicht, davon »zeugen die Fotos aus den 1920er Jahren, auf denen die Familien der Schwestern Kafkas wie für ein Gesellschaftsmagazin posieren.«
Wenn man die ca. 100 Fotos in ihrer Gesamtheit betrachtet, dann fällt auf, dass die Anzahl der Fotos von Verwandten mütterlicherseits größer ist als die der Verwandten väterlicherseits. Franz Kafka und seine Schwestern fanden sich, so der Herausgeber, »zu den nicht minder zahlreichen Kafkas weniger hingezogen als zu den eigenbrötlerischen Junggesellen Alfred, Rudolf und Siegfried Löwy mit ihren Spleens und Besonderheiten«. Fotos von gemeinsamen Kur- und Ferienaufenthalten dokumentieren »die Verbundenheit und den Zusammenhalt der Kafka umgebenden Familie. Sie schützte und unterstützte ihn, vor allem in den letzten Jahren, als er fern von Prag Heilung von seiner Tuberkulose suchte.«
In den letzten Monaten seines Lebens »fällt die gepflegte Fassade des dem Familienleben fernstehenden Einzelgängers vollends«, schreibt Koch. In dem in diesem Buch zitierten letzten Brief bittet Dora Diamant »Kafkas Eltern und Schwestern, von ihrem Prager Leben zu berichten, Franz giere so sehr nach Neuigkeiten von ihnen.« Wie die Schwester Ottla wollten auch die Eltern Kafka im niederösterreichischen Kierling besuchen. Zu diesem Besuch, von dem er am 2. Juni 1924 schreibt, er sei ihm sehr wichtig, sollte es nicht mehr kommen. Einen Tag später starb Franz Kafka. Ein überaus empfehlenswertes Buch – nicht nur für Kafka-Kenner!
Titelangaben
Rüdiger Safranski: Kafka
Um sein Leben schreiben
München: Hanser Verlag 2024
256 Seiten, 26 Euro
Hans-Gerd Koch (Hrsg.): Kafkas Familie. Ein Fotoalbum
Mit Texten von Franz Kafka
Berlin: Klaus Wagenbach Verlag 2024
208 Seiten, 38 Euro