Es ist ein schönes Ritual: Jeden Montag einen oder mehrere Kalender umblättern zu können, Neues zu entdecken, Bekanntes wiederzuentdecken und die Woche mit einem kleinen Ausschnitt Literatur zu beginnen. Seit vielen Jahren gibt es in der edition momente (früher Arche Verlag) die wunderbaren Kalender, neben dem Kinderkalender auch den Literaturkalender. Vorab durchgeblättert von GEORG PATZER
Dies ist der Augenblick, da
die Werwölfe auf
der Strecke bleiben.
Kein
Scherge mehr
lebt.
Der Mensch, wahr und allein,
geht aufrecht inmitten
der Menschen.
Man kann es sich nicht vorstellen, was für ein Gefühl das ist, wenn man diese Zeit überlebt hat. Wenn alle Verwandten in den Lagern ermordet wurden, man selber aber keine Angst mehr haben muss, eingesammelt, verschleppt und ermordet zu werden. Paul Celan beschrieb diesen Augenblick der inneren Freiheit, »wahr und allein« und »aufrecht« stehen zu können. Dass viele Schwergen, viele Werwölfe immer noch lebten und weiterarbeiteten, steht auf einem anderen Blatt: Das System der industriellen Massenvernichtung durch Deutsche war beendet.
Nein, das kann man sich nicht vorstellen. Primo Levi hat Auschwitz überlebt und schrieb am 24. Januar: »Freiheit. Die Bresche im Stacheldraht gab uns einen konkreten Begriff davon. Wenn man es sich richtig überlegte, so bedeutete das: keine Deutschen mehr, keine Selektionen, keine Arbeit, keine Schläge, keine Appelle und später vielleicht die Heimkehr. Aber es kostete Anstrengung, sich davon zu überzeugen, und keiner hatte Zeit, es zu genießen. Alles ringsum war Zerstörung und Tod.«
»Momente der Freiheit« ist das Thema des neuen Literaturkalenders für 2025 aus der edition momente (früher erschienen diese wunderbaren Kalender im Arche Verlag). Freiheit ist ein vager oder ein allumfassender Begriff, und so umspannen auch die 52 Bilder und Texte ein weites Feld. Manche schreiben über die politische Freiheit, wie der palästinensische Dichter Mahmoud Darwish, der wegen seines Engagements für einen palästinensischen Staat und ein friedliches Miteinander mit Israel oft in Haft war: »Nur mein Inneres erleuchtet meine Zelle. Friede sie mir, Friede sei der Mauer der Stimme. Ich habe zehn Gedichte verfasst zum Lob meiner Freiheit hier oder dort.« Und er preist seine Freiheit: »dass ich bin, wie ihr nicht wollt, dass ich sei.«
Für manche Frauen ist Freiheit die Befreiung aus einer Ehe, wie für die Journalsitin Martha Gellhorn, die mit Ernest Hemingway verheiratet war: »Ich will ich selbst sein und allein und frei atmen, leben, die Welt betrachten und so vorfinden, wie sie ist: Ich will ihm entfliehen und mir und diesem Eheleben, das sich anfühlt wie eine Zwangsjacke. Zu guter Letzt und für alle Zeit möchte ich meinen Namen zurück, dringend, als würde mir das einen Teil meiner selbst zurückgeben.« Und auch Lillian Hellman seufzte: »Ich war beschämt, dass ich so oft meine eigene Niederlage herbeigeführt hatte.« Und blieb dennoch bei ihrem alkoholkranken Mann, dem berühmten Krimiautor Dashiell Hammett.
Für einige Autoren war Freiheit die Möglichkeit, reisen zu können, Hans Christian Andersen postuliert: »Reisen ist leben! Gleich einem stärkenden Bad für den Geist, gleich dem Medea-Trunk, der immer wieder verjüngt«, für Arno Schmidt ist die öde und menschenleere Heide mit der »für Schwächlinge zu großen Stille«, für Wolfgang Hildesheimer war es das norwegische Tynset, »der einzige Ort, an dem ich atmen kann, frei, von allem gelöst, von nichts bedrängt als von Witterung. Keine Gespräche zu führen, keine Aufträge auszuführen, kein Urteil zu fällen«. Und für Wolfgang Herrndorf waren es Straßen: »Dann taucht am Ende der Straße eine Kreuzung auf – und dann? Oh, ein neuer Weg!«
Für Fay Weldon bestand die Freiheit darin, sich mit den unzufriedenen Frauen zu solidarisieren, für Ella Maillart, mit ihrer Geliebten Annemarie Schwarzenbach durch die Welt zu reisen, für Jane Austen, dass es endlich, als sie 55 Jahre alt ist, keine aufdringlichen männlichen Verehrer mehr gibt.
Pasolini setzt auf die große Geste der Verweigerung, »sie muss total sein, nicht nur diesen oder jenen Punkt betreffend; sie muss ‚absurd‘ sein, nicht vernünftig.« Und Hölderlin schreibt in hohem Ton aus seinem Gefängnis im Tübinger Turm:
Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen,
Daß er, kräftig genährt, danken für Alles lern,
Und verstehe die Freiheit,
Aufzubrechen, wohin er will.
Wie immer streift der Literaturkalender wieder viele Aspekte, schöpft aus dem Vollen der Literaturgeschichte der Welt, umkreist die vielen Schattierungen des Begriffs, vom französischen Philosophen Albert Camus bis zur englischen Autorin Elizabeth Taylor (nicht die Schauspielerin!), und von Schiller über Zora Neale Hurston und Pramoedya Ananta Toer bis Kenzaburo Oe. Außereuropäische Autoren und Frauen sind leider ein wenig unterrepräsentiert. Und wie immer ist auch dieser Kalender grafisch wunderbar zwischen Bild, Zitat und Begleittext gestaltet, so dass es eine wahre Freude ist, jeden Montag umblättern zu können und etwas Neues zu entdecken.
Titelangaben
Claudia Jürgens (Hrsg.) Der Literatur Kalender 2025
Zürich / Hamburg: edition momente 2024
53 Wochenblätter. 24 Euro
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