//

Unbekannt

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Unbekannt

Ob es darauf hinauslaufe, den Blick neu zu justieren, fragte Wette.

Der Pferdekopfnebel, der sich von dem Emissionsnebel IC 434 abhebe, sagte Wette, sei bekanntlich weder ein Nebel, noch habe er etwas mit Pferden zu tun.

Alles falsch?

Alles falsch, er sei Teil der erwähnten Dunkelwolke IC 434 im Orion, tausendfünfhundert Lichtjahre entfernt und erstrecke sich über fünf Lichtjahre.

Tilman nahm sich einen Marmorkeks.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Was eine Wolke sei, fragte Annika.

Wir haben Schwierigkeiten mit der Sprache, sagte Tilman, offensichtlich, und lachte, doch die Dinge hätten einen Namen verdient.

Da werde der Astrophysiker flugs zum Poeten.

Gezwungenermaßen.

Es heiße doch, sagte Wette, die Grenzen unserer Sprache seien die Grenzen unserer Welt, und ehrlich, wir wissen nicht, um was es sich handelt, jedenfalls weder um einen Pferdekopf noch um einen Nebel, so viel sei sicher, und was sie außerdem dort draußen fänden: schwarze Löcher, dunkle Materie, eine Milchstraße, Röntgenstrahlen, einen Orionnebel, einen Flammensternnebel, einen Kuipergürtel, Oortsche Wolken – die Astrophysiker seien aufmerksam unterwegs und kämen mit abenteuerlichen Erzählungen nach Hause.

Ein Puzzlespiel, spottete Tilman, ein Haschen nach Wind, sie messen Entfernungen in Lichtjahren oder in astronomischen Einheiten, verbrennen irrsinnige Summen für ihre über den Wolken installierten Hochleistungsteleskope, freuen sich über farbenfrohe Fotografien, setzen die Teile zusammen und nennen das Bild ein Universum.

Die Augen sehen sich nicht satt, die Ohren hören sich nicht satt.

Ob sie uns einen Bären aufbinden, frage er sich, sagte Tilman, denn rund achtzig Prozent der uns umgebenden Realität seien ihren eigenen Worten zufolge sogenannte Dunkle Materie und seien nicht sichtbar.

Wette lachte amüsiert. Welch blühende Phantasie, sagte er, und am Ende, sagte er, bewegen wir uns auf dünnem Eis.

Ein Mensch müsse nicht alles wissen, sagte Tilman und warf einen Blick zum Gohliser Schlößchen.

Er nenne sich Homo sapiens, wandte Annika ein.

Dummheit und Stolz, entgegnete Farb, wüchsen auf einem Holz, schwieg und aß ein Stück von seiner Pflaumenschnitte.

Annika schenkte Tee nach, Yin Zhen, sie empfand es als angenehm, Wette eingeladen zu haben, und nein, sie würden jetzt nicht Doppelkopf spielen, auf keinen Fall, sie griff zu ihrem Reisemagazin.

Unserer Sprache fehlen die Worte, sagte Tilman, deshalb legen wir uns Namen zurecht, Namen, vertraut, als ob wir die Dinge verstehen würden, und unsere Astrophysiker entfalten ihre poetischen Talente, sagte er: Milchstraße, sagte er, ungefähr genauso passend, sagte er, als würdest du eine Straße in einer verkehrsreichen City Gänsemarkt nennen oder eine sechsspurige Stadtautobahn Jungfernstieg, und du fragst, wie so etwas zustande komme, Milchstraße, spottete er, das klinge so mütterlich, so sehr heile Familie, und ob es die Sehnsucht sei nach einer weniger kompliziert ausgetüftelten Welt, in der man sich nicht jenseits der Sprache bewegen müsse, nicht jenseits der Worte, die unsere Sprache bereithalte, sondern frei sei von aller Wortakrobatik, so daß man sich in der eigenen Sprache heimisch fühle.

Was daran verwerflich sei, frage er sich, sagte Wette.

Nichts, sagte Tilman, nichts sei daran herumzukritteln, doch es sei zweierlei, ob man den Gänsemarkt auch als einen realen Ort kenne, etwa als eine Bushaltestelle, an der man ein- oder aussteige, oder ob man von einer Milchstraße rede und von einem Pferdekopfnebel, hoch über den Wolken, Teile eines geheimnisvollen Phänomens, dunkle Materie, nein, null, unbekannt, man wisse das nicht, ein Rätsel, doch niemand müsse jedes Rätsel lösen.

Was dann letztlich anders sei, fragte Annika, wenn man Tierkreiszeichen sortiere und sich den wahrnehmbaren Himmel auf diese Weise zusammensetze, außer daß das eben eine andere Systematik sei.

Nein, keine Ahnung, sagte Farb, das eine sei ein Konstrukt wie das andere und suche unbekannte Phänomene in einen vermeintlich sinngebenden Zusammenhang zu stellen.

Erfolglos, sagte Wette.

Farb hatte sich erneut Sahne aufgetan und aß von der Pflaumenschnitte.

Tilman trank vom Tee, Yin Zhen, sie hatten das Service mit dem Drachenmotiv aufgedeckt, rostrot, sie besaßen es auch lindgrün, er hatte es, das rostrote, wir erwähnten das mehrfach, von einem Aufenthalt in Beijing mitgebracht, wo er einen Halbmarathon auf der Großen Mauer gelaufen war.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Das verlorene Meisterwerk

Nächster Artikel

Ein Blick über den Tellerrand nach Amazonien

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Schlagzeilen mache ich nicht

Kurzprosa | Volker Braun: Werktage. Arbeitsbuch 1990-2008 »Ich kann sagen, was ich will, Schlagzeilen mache ich nicht«, notierte Volker Braun in seinem nun erschienenen opulenten poetischen Tagebuch aus den Jahren zwischen 1990 und 2008. In diesen Werktagen offenbart sich eine bisher kaum beachtete Facette in Brauns Arbeiten: der feinsinnige Humor und seine Neigung zur subtilen Selbstironie. Zum 75. Geburtstag von Georg-Büchner-Preisträger Volker Braun am 7. Mai* – Von PETER MOHR

Verwirrung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Verwirrung

Die allgemeine Konfusion verdichte sich, nicht wahr, man müsse sich eine gehörige Portion Argwohn bewahren, sagte Tilman und  griff nach einem Vanillekipferl.

Farb schenkte Tee ein.

Der Planet sei heruntergewirtschaftet, die Dinge würden unaufhaltsam bröckeln, sagte er, der Status quo werde allerorten unzureichend oder falsch erklärt, und niemand wundere sich noch über ungewöhnliche Perspektiven.

Irrfahrten

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Irrfahrten

Die Odyssee unserer Tage, sagte Tilman, spiele sich nicht an der Oberfläche des Planeten ab, nicht auf den Meeren und Inseln wie einst.

Kurzgeschichten für Kurzstrecken

Kurzprosa | Klaus Wagenbach (Hrsg.): Störung im Betriebsablauf. 77 kurze Geschichten für den öffentlichen Nahverkehr Störung im Betriebsablauf: 77 kurze Geschichten für den öffentlichen Nahverkehr – dieses Buch hat die praktischen Maße eines Smartphones und passt in jede Hosen-, Hemd- und erst recht Handtasche. Als kleiner Literaturhappen für Nahverkehr, Überlandfahrten und Wartezeiten am Bahnsteig. Selbst eine Störung im Betriebsablauf wird dank Klaus Wagenbach noch zum Leseerlebnis. Von INGEBORG JAISER

Aufbruch

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Aufbruch

Sie reden von Aufbruch, Anne, das ist neu.

Aber spät, es geschieht alles so spät, der Planet steht in Flammen.

Immerhin, man scheint die reale Welt wahrnehmen zu wollen, in der Politik weht eine frische Brise.