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Abschied

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Abschied

Die finalen Feierlichkeiten sind eröffnet.

Das hat aber niemand bemerkt?

Du sagst es, Annika, das fällt kaum besonders auf, niemand faßt mehr einen klaren Gedanken. Die große Abschlußsause tobt, Bilder leuchten in allen erdenklichen Farben, Lärm und Getöse sind unsäglich, jeder Pulsschlag null auf hundert, weshalb, ein Event jagt das andere.

Pausenlos.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Annika warf einen Blick auf das Gohliser Schlößchen.

Tilman rückte näher an den Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Ein fulminantes Fest mit großem Feuerwerk. Der bedrängte Planet, gastfreundlich und stets ein großzügiger Sponsor, er stellt sich neu auf, er balanciert sich aus, begleitet von den Geburtswehen des Neuen, wo gehobelt wird, fallen Späne, die Erde bebt, Vulkane brechen aus, Flammenwände, haushoch, jagen über Land, hier Schneeverwehungen, dort ergießt sich Wasser vom Himmel, marodes Gebälk stürzt krachend ein, Bäume brechen zu Boden, Wälder vertrocknen, Flüsse versiegen – welch grandioses Schauspiel!

Hochkomplex, sagte Farb, gigantisch, der Planet sortiert sich neu.

Das hat es nie gegeben, Annika, so weit unsere Erinnerung reicht, die Meere übersäuern, die Wasser steigen, Nahrung wird ungenießbar, und der Mensch flüchtet sich in den Rausch, überall ist Party ausgerufen, ich will immer wieder dieses Fieber spür’n, du hörst den betäubenden Lärm von Musikanten, zittrige Greise begeben sich auf Welttournee, Künstler stellen ihre letzten Gemälde aus, auf Versteigerungen werden exorbitante Preise erzielt, Museen gewinnen neues Publikum, verheerende Kriege nehmen kein Ende, ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n, das Weltkulturerbe wird laufend ergänzt, ich will alles, und nirgends ein Entrinnen, a good man is hard to find, nirgendwo eine Zuflucht, auf dem Planeten sind vierhundert AKW in Betrieb, sechzig im Bau, flächendeckend rauscht der Sound der guten Laune, ein dichter Schleier, undurchdringlich, er ist wie du, wer weiß denn sowas, gewinnend lächelnde Nachrichtensprecherinnen und -sprecher in sorgsam arrangierten Outfits werden in nüchternen Worten stündlich breaking news verlesen.

Laß gut sein, Tilman. Dem Menschen stellt das ein vernichtendes Zeugnis aus – nicht bestanden, er wurde zum Auslaufmodell, der Planet verstößt ihn und keine Chance, je wieder aufgenommen zu werden, hinter ihm schließen sich die Tore.

Das ist es, Annika – er hat kaum etwas gemerkt, er hat es heraufbeschworen und lügt sich in die Tasche, wie blind kann man sein. Wann das Verhängnis begann? Gramner hat recht, der Übergang vom Segel- zum Dampfschiff war ein entscheidender Schritt, der Mensch löste sich aus seiner innigen Verbindung mit den Kräften der Natur, das Maschinenwesen trat die Herrschaft an.

Farb tat sich einen Löffel Sahne auf seine Pflaumenschnitte.

Annika schenkte Tee nach, Yin Zhen, sie hatten wie sonst auch das Service mit dem Drachenmotiv aufgedeckt, rostrot, ein Geschenk, das Tilman aus Beijing mitgebracht hatte, wo er einen Halbmarathon auf der Großen Mauer gelaufen war, das mon amie hatten sie aufgegeben, Roerstrand führte es nicht länger im Programm.

Farb tat sich einen zweiten Löffel Sahne auf, verteilte sie gleichmäßig und, zwanghafte Geste, strich sie sorgfältig glatt.

Tilman lächelte entspannt.

Die Vertreibung habe längst eingesetzt, Tilman, seit nunmehr zwei Jahrhunderten, und wer wisse denn, sagte Annika, wann sich dereinst die Nebelschleier lichten, tausend Jahre wie ein Tag, der gestern vergangen ist, und wie werde die neue Welt beschaffen sein, und ob es je wieder menschliche Augen geben werde, ihre Schönheit wahrzunehmen.

| WOLF SENFF

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