//

Flüchtlinge

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Flüchtlinge

Wie es gelinge, eine Wirtschaftsordnung wie die gegenwärtige als positiv darzustellen, das frage er sich seit langem, sagte Farb und tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm die Schale mit Schlagsahne.

Unbegreiflich, sagte Farb und nahm sich einen Löffel Sahne, die er sorgfältig auf dem Stück Kuchen verteilte.

Die Defizite seien offensichtlich, sagte er, sie seien bekannt, über hundert Millionen Menschen vagabundierten über den Planeten, doch nichts geschehe, die Not zu unterbinden, immer mal wieder werde darauf hingewiesen, nichts als heiße Luft, nichts als Sonntagsreden, und real tue sich nichts, die Politik toleriere ein himmelschreiendes Elend, und nackter Zynismus sei es, von einer Wirtschaftsordnung zu reden, Ordnung, das sei doch zum Lachen.

Die Dinge trieben auf einen Kollaps zu, und ob sie von dem Unsinn gelesen hätten, den diese Wirrköpfe publizierten, diese Galionsfiguren digitaler Kommunikation, amüsante Geschichten von selbstfahrenden Autos und von künstlicher Intelligenz, nein, die Kultur des Industriezeitalters sei endgültig im Begriff, sich aufzulösen.

Annika blätterte in einem Reisemagazin.

Tilman rückte näher an den Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Farb schenkte Tee ein, Yin Zhen, und tat sich eilig ein zweites Stück von der Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Das Gohliser Schlößchen glänzte unter einer heiteren Nachmittagssonne.

Daß von Kommunikation geredet werde, sei erst seit wenigen Jahrzehnten üblich, sagte Tilman, die Zeiten änderten sich rapide, die Geschäftsabläufe würden globalisiert, und die Kommunikation stehe im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, ein wesentliches Ziel liege darin, geschäftliche Abläufe komplett zu digitalisieren.

Die Wirtschaftsordnung bzw. das, was so genannt werde, gebe die Richtung an, die Parolen lauteten Wachstum und Fortschritt, und man müsse sich fragen, was hier tatsächlich geschehe, sagte Farb, kommuniziert werde mit e-mail, mit sms, mit Skype, per Mobiltelefon und per Festnetz, es werde gechattet, dazu Selfies ohne Ende, Influencer stellen sich auf, eine gewalttätige Geschwätzigkeit laste erstickend auf den sozialen Zusammenhängen, wie, frage er sich, solle man das bewerten, es handle sich um einen tiefgreifenden Wandel der Alltagskultur, das betriebsame Gewese sei Kulisse, Potemkische Dörfer, die den Blick auf den Kollaps verstellten, die digitalen Abläufe würden Produktion und Konsum in nie gekanntem Ausmaß verändern, und Politik – Politik stehe am Spielfeldrand, folge interessiert den Abläufen und tue nichts.

Sie schweigen, sagte Tilman, nein, die Vergiftung und Zerstörung des Lebens verschone den Menschen nicht, das sei ein heikles Thema, aber Politik fühle sich nicht zuständig und möchte sich dazu nicht äußern.

Annika lächelte und fragte sich, wofür überhaupt Politik zuständig sei.

Die Abläufe wüchsen uns über den Kopf, sagte Farb, sie führten ein Eigenleben, das Maschinenwesen betrete die Bühne, megaloman, lärmend und mit triumphalistischem Gestus, den Menschen kannst du darüber vernachlässigen.

Sein Abschied werde qualvoll sein, sagte Annika, unvorstellbar, und griff zu einem Vanillekipferl.

Sie hätten an Geschmack verloren, konstatierte Tilman, seitdem die Preise für Vanille so immens gestiegen seien, sie seien gar nicht mehr im Angebot.

Feuersbrünste, Überflutungen, Orkane, Erdbeben, sagte Farb, wem da ein schneller Tod vergönnt sei, der sei glücklich zu schätzen, ein Günstling der Götter, sagte er und lächelte, doch wer es sich leisten könne, der habe vorgesorgt und werde in seiner Not vermeintlich sichere Regionen aufsuchen, er sei nicht ortsgebunden, habe investiert, habe Zweit- und Drittwohnsitze erworben, sich einen Pilotenschein verschafft, ausnahmslos bestens organisiert, hocheffektiv vernetzt, fühle sich mit dem eigenen Privatflugzeug flexibel und wiege sich in der Illusion, sein Leben retten zu können, die Hoffnung sterbe zuletzt, aber welch ein armseliges Geschöpf, das nie etwas verstanden habe, welch anmaßender Anspruch, das Leben retten zu wollen, und sei es allein das eigene, so furchterregend gedankenlos dahergesagt, er habe stets nur an der Benutzeroberfläche existiert und nichts verstanden, nicht einmal jetzt, da das Sterben, langanhaltend, so gnädig sei, eine Frist zu gewähren, und eine Chance unterbreite, daß man sich besinne, die Abläufe seien ja erwartbar, seien bis ins Detail hinlänglich bekannt, man müsse sie als wohlwollend verstehen, zweifelsfrei wohlwollend, unbedingt, solch eine freundliche Geste lehne niemand ab, nein, auch laufe man nicht davon, doch je hartnäckiger sich der Mensch zur Wehr setze, nun denn, Farb lächelte, desto nachdrücklicher trete das Angebot auf, unerbittlich.

Er tat sich erneut eine Pflaumenschnitte auf.

Annika reichte ihm die Schale mit der Schlagsahne.

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Eine Liebe am Wattenmeer im Zeichen des Klimawandels

Nächster Artikel

Nachrichten einmal ganz anders

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Oktoberfestmitternacht

Musik | Textminiatur und »Biermusik« Zwischen Nacht und Morgen auf dem Nachhauseweg in dem Viertel, in dem das Oktoberfest stattfindet. Aus einem Fernzug und aus’m Bahnhof heraus, der von auf dem Fußboden schlafenden Personen, die auf den ersten Zug in der Frühe warten, offensichtlich zum Camp umfunktioniert wurde. Am Gehsteig weggeworfener Firlefanz, Flaschen, Essenstüten. Von TINA KAROLINA STAUNER

Liebesgeschichte und Tragödie

Kurzprosa | Christine Wunnicke: Nagasaki, ca. 1642

Liebesgeschichte und Tragödie auf Deshima. Im 17. Jahrhundert waren die Holländer die einzigen westlichen Ausländer, mit denen die Japaner Handel trieben. Sie mussten auf einer kleinen Halbinsel vor Nagasaki wohnen, streng kontrolliert. Aber manchmal kam es doch zu kuklturverwirrenden Begegnungen. Christine Wunnicke, eine grandiose Erzählerin von Geschichten aus dem Fernen Osten, erzählt von einer Rache, die sich viel Zeit gelassen hat. Von GEORG PATZER

Auf geht’s!

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Auf geht’s!

Was solle man dazu sagen, fragte Farb, die Realität werde übertönt vom Lärm einer Wohlfühlgemeinde, deren Welt eine Wirklichkeit taumelnder Blasen sei, die sekundenlang irrlichternd schweben, bevor sie geräuschlos platzen und sich ins Nichts auflösen würden.

Eine mediale Wirklichkeit, fragte Tilman.

Spaßgesellschaft, sagte Annika.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Diese Wirklichkeit habe sich vom realen Leben verabschiedet, sagte Farb, sie überlagere den Alltag und, wie gesagt, sie werde letztlich geräuschlos platzen und keinen Eindruck hinterlassen, und der Mensch, als ginge all das mit rechten Dingen zu, sähe sich unversehens mit einer rauhen Wirklichkeit konfrontiert

Miami

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Miami

Miami, USA, wir waren in Miami, wann war das. Tilman erinnerte sich. Das dürfte drei, auch vier Jahrzehnte her sein, sagte er, Rucksacktouristen, sagte er, die Zeiten waren anders, wir waren zu viert, irrten ziellos vom Flughafen in Richtung Stadt, es wurde Nacht und wir rollten Schlafsäcke auf einem weitläufigen Rasen aus, Gelände noch des Flughafens, weit waren wir nicht gelangt zu Fuß, wir schliefen drei, vier Stunden, bis wir vom grellen Scheinwerfer einer Polizeipatrouille geweckt wurden, freundlich aber bestimmt, dies sei kein Platz zum Übernachten, außerdem lebten hier Schlangen, das sei nicht ungefährlich, und wir sollten zusehen, in die Stadt zu kommen.

Abgesang

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Abgesang

Wir möchten verstehen, sagte Gramner, wer seien wir denn, daß wir über sie urteilen würden, materiell wie mental herrschen Not und Elend, der Alltag der Moderne erweise sich, sähe man nur aufmerksam hin, stets als das Gegenteil dessen, was in bunten Lettern gepriesen werde oder mit marktschreierischen Tönen verkündet.
Große Worte, dachte London und erschrak.