Alle Jahre wieder

Kurzprosa | Literaturkalender 2025

Für die einen sind sie Zeitplaner und Taktgeber, für die anderen farbenprächtiger Wandschmuck oder tägliche Quelle der Inspiration und der (Wieder-)Entdeckungen: Literaturkalender. Wenn die Tage kürzer werden und die Temperaturen sinken, wärmt ein poetischer Ausblick Geist und Herz. Nicht nur INGEBORG JAISER freut sich auf das kommende Jahr.

Aus jedem Tag wird Literaturgeschichte

Er gilt als der Klassiker schlechthin, gleichermaßen Verführer wie verlässlicher Begleiter. Seit 1968 präsentiert der Aufbau Literatur Kalender im wöchentlichen Wechsel Büchermenschen aus allen Himmelsrichtungen und Epochen. Aus einem schier unerschöpflichen Fundus von über 3000 ständig aktualisierten biographischen Daten wählen die Herausgeber jeweils ein Geburtstagskind der Woche oder einen Verstorbenen, den es zu ehren gilt. So verschmelzen Textauszüge, Briefzeilen, Gedichte und Kurzvorstellungen mit (oft unbekannten) Fotografien und Illustrationen zu lebendigen Porträts.

Manch alte Bekannte oder gute Freunde wird man wiederentdecken (von Albert Camus bis Edgar Wallace, von Anna Seghers bis Annie Proulx), aber auch auf ungeahnte Trouvaillen stoßen. Wie auf Dinah Nelkens entzückendes, frühes Pop-up-Buch ich an dich aus dem Jahre 1939, das immer noch antiquarisch erhältlich ist. Oder den Digedags, deren geistiger Vater Hannes Hegen als Erfinder des DDR-Comics gelten kann. Ein Kalenderblatt ist gar einem weltweiten kulturellen Feiertag und keiner Person gewidmet. Doch das muss jeder selbst herausfinden.

Butterblumengelbe Wiesen, sauerampferrot getönt

Freunde und Verehrer des ikonischen Gedichtekalenders aus dem Kröner Verlag werden jedes Jahr mit Spannung die neue Farbgestaltung erwarten – um das Regenbogenspektrum ihrer Sammlung zu erweitern. Auf abgestufte Nuancen von Grün und Blau und einen warmen Rosenholzton folgt nun ein satt schimmerndes Pink, als wolle es alles Leuchten des Jahres vorwegnehmen. Vielleicht die »Eisringe in strenger Symmetrie« aus einem Januar-Gedicht. Christian Morgensterns »Butterblumengelbe Wiesen, sauerampferrot getönt« im Mai. Oder Gottfried Benns Anrufung des herbstlichen Oktobers: »Astern – schwälende Tage / alte Beschwörung, Bann / die Götter halten die Waage / eine zögernde Stunde an.« Damit der Dichterin Eva Strittmatter noch im Dezember eine poetische Rückschau vergönnt ist: »Der See und die Libelle / Das Vogelbeerenrot / Die Arbeit einer Quelle / Der Herbstgeruch von Brot.«

Mit puristischer Zurückhaltung glänzt dieser hochwertige, auf Munken-Papier gedruckte Kalender seit Jahren. Keinerlei Verzierung lenkt ab von den im Zweiwochenrhythmus wechselnden Gedichten in der faksimilierten, expressiven Handschrift Hubert Klöpfers. Die Auswahl der lyrischen Schätze lag wieder in den Händen prominenter Patinnen und Paten wie Bernadette Schoog, Bernhard Schlink oder Wolfgang Niedecken. Ein wunderbares Geschenk für alle Menschen mit ästhetischem Anspruch und Liebe zum Schönen.

Diesem Anfang wohnt ein Zauber inne

Die Magie des ersten Satzes birgt Zauberkräfte. Ob ein Roman, eine Erzählung zu fesseln vermag, hängt von nur wenigen Worten ab. Wenn sie spontan Spannung erzeugen, die Fantasie anregen, Neugierde wecken, ist der Bann geschlagen. Der ars vivendi Verlag (mehrfacher Träger des Deutschen Verlagspreises) vereint in seinem Literatur Kalender bekannte und unbekannte erste Sätze mit Fotografien, die mal eine Stimmung vertiefen, mal ein Rätsel aufwerfen.

Zum Raten verleiten alle Kalenderblätter. Hinter kunstvollen Mammutsätzen wird man schnell die Altmeister wie Thomas Mann oder Hermann Hesse entlarven. Doch welcher Autor, welches Genre steckt wohl hinter den kurzen, unergründlichen Anfängen? Beginnt so vielleicht ein Krimi: »Als Erstes ist da der Geruch von Blut und Kaffee.« Oder eher so: »Milan Holub hatte das Leben meines Vaters zerstört, und als mir eines Tages ein Verlag sein neues Buch zur Beurteilung schickte, beschloss ich Rache zu nehmen.« Oder mit dieser Drohung: »Erzähl das ja keinem außer Gott.« Keine Sorge: alle Autoren werden namentlich erwähnt. Doch jede Woche erwartet uns ein neuer Teaser, der vielleicht schon bald ins nächste Leseabenteuer entführt.

Jedes Ding hat seine Zeit

Der jüngste Kalender dieser Riege umspannt doch einen weiten zeitlichen und thematischen Bogen. »Für geneigte Bücherfreund:innen« konzipiert der Freiburger 8 grad verlag ein ambitioniertes Programm. Der nun im dritten Jahrgang erscheinende Kulturkalender für Baden und Württemberg streift mit Entdeckerlust und Stolz durch die Schätze der Region. Wer würde schon Johannes Brahms widersprechen wollen: »Ein anständiger Mensch muss schon des klassischen Repertoires wegen alljährlich einige Monate in Karlsruhe leben.«

Ein historisches Ereignis aus Deutschlands Südwesten, die Geburtsstunde einer bahnbrechenden Idee oder die biographischen Daten einer Persönlichkeit verführen jede Woche aufs Neue zu überraschenden Funden. Zusammen mit zeitgenössischen Illustrationen und literarischen Zitaten (teils aus derselben Epoche, teils um Jahrhunderte entfernt liegend) entstehen so spannende Arrangements, oft über alle Disziplinen hinweg. Passt zur 1780 erfolgten Gründung der Societas Meteorologica Palatina und Beginn der modernen Wetteraufzeichnung nicht hervorragend Erich Mühsams satirisches Gedicht aus dem Jahre 1930: »Jedes Ding hat seine Zeit. / Trockne Luft wie Feuchtigkeit. / Strahlts von oben oder gießts – / Die Regierung – hei! beschließts.«

Unbeschreiblich weiblich

»Was für ein herrliches Leben hatte ich! Ich wünschte nur, ich hätte es früher bemerkt,« seufzt Colette, vom Deckblatt des Literarischen Frauenkalenders selbstbewusst-lasziv auf uns herabblickend. Es folgen 52 spannende, mutige und wegweisende Lebenswerke außergewöhnlicher Schriftstellerinnen, die allesamt so einzigartig sind, dass man am Ende des Jahres wünscht, man hätte sie schon früher bemerkt. Zum Beispiel die freizügige George Sand, die sich über alle Rollenkonventionen hinwegsetzte (»Das Leben gleicht öfter einem Roman als die Romane dem Leben.«) Oder die zu Unrecht vergessene Afroamerikanerin Zora Neale Hurston, die in den 1920er Jahren ihre literarische Stimme erhob: »Es gibt Menschen, die können in einem Schlammloch einen Ozean mit Schiffen erblicken.«

Schon zur Tradition gehört im Hause ebersbach & simon (mehrfach mit dem deutschen Verlagspreis ausgezeichnet) dieser Kalender: profund recherchiert und feinsinnig konzipiert, in ansprechender Ausstattung, mit großformatigen Fotografien und informativen biobibliographischen Porträts. Der ideale Jahresbegleiter nicht nur für frauenbewegte Literaturfans.

Einmal um die ganze Welt

Ist es nicht putzig? Dieses gehörnte, spitzzähnige, schweinsnasige, grünpüschelige Ungeheuer, das mit gespreizten Fingerchen adrett ein Tässchen hält, als würde es uns zu einem vergnüglichen Kaffeeklatsch einladen. Da kann man doch nicht Nein sagen – und blättert neugierig weiter, um flugs zu einer unbändigen Reise durch alle Jahreszeiten, Kontinente, Sprachen mitgerissen zu werden. Es wird tierisch interessant, in diesem von der Internationalen Jugendbibliothek herausgegebenen Kinder Kalender, der 53 Gedichte aus 37 Ländern in Original und Übersetzung, samt Buch-Illustrationen aufblättert.

Treibt uns im Februar ein irisches Lied bei Wind und Wetter hinaus, warm verpackt und in bester Gesellschaft (»Mein Hund trägt seinen Mantel seit dem Tag seiner Geburt«), begleitet uns chinesische Poesie durch den aufkeimenden März: »Hab in der Ferne den Frühling gesucht / in jeder Wolke, jeder Bucht / und habe dabei hier im Hof übersehen / wie sie sich schon öffnen / die Knospen der Schlehen.« Bis zum lautmalerischen, finnischen Dezember-Gedicht: »Das L läuft Schlittschuh auf dem Eis / und landet leider auf dem Steiß.«

Die Kunst der Gelassenheit

Seine Longseller Post für den Tiger oder Oh wie schön ist Panama haben ganze Generationen geprägt, auch wenn der publikumsscheue Illustrator und Schriftsteller Janosch lieber in Zurückgezogenheit lebt. Seine erst spät geschaffene Kunstfigur Wondrak (ein Alter Ego?) setzt sich über alle Krisen und Widrigkeiten des Lebens mit gelassenem Humor hinweg.

So ist man mit Wondrak für alle Lebenslagen bestens für das neue Jahr gerüstet. In gelbem Gewand und mit stabiler Spiralbindung findet der Aufstellkalender aus dem Reclam Verlag seinen Lieblingsplatz auf jedem Schreibtisch, jedem Regal. Von hier aus versorgt uns der schnauzbärtige Latzhosenträger im Wochenrhythmus mit praktischen Ratschlägen zu den großen Fragen des Alltags. »Was wäre ein guter Aprilscherz«, »soll ein Mann einen Hut tragen?« oder »wie temperiert man sich im Sommer?« Doppelte Freude ist angesagt. Denn die entwaffnend pragmatischen Einsichten lassen sich auf dem guten alten Postweg mit Freunden in der Ferne teilen: unter jedem Wochenkalendarium befindet sich eine heraustrennbare Postkarte. Und schon katapultiert uns die Erkenntnis »Wie lässt man es an Silvester so richtig knallen« schwuppdiwupp ins neue Jahr.

| INGEBORG JAISER

Kalender

Aufbau Literatur Kalender 2025
Berlin: Aufbau Verlag 2024. 24 Euro
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Kröners Gedichtekalender 2025
Handgeschrieben und hrsg. von Hubert Klöpfer
Stuttgart: Kröner Verlag 2024. 28 Euro
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Literatur Kalender 2025: Die Magie des ersten Satzes
Cadolzburg: ars vivendi 2024. 24 Euro
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Kulturkalender für Baden und Württemberg 2025
Hrsg. von Victoria Salley und Stephan Thomas
Freiburg: 8 grad verlag 2024. 24 Euro
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Der literarische Frauenkalender 2025: Frauen erlesen
Hrsg. von Unda Hörner
Köln: ebersbach & simon 2024. 24 Euro
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Der Kinder Kalender 2025
Hrsg. von der Internationalen Jugendbibliothek
Frankfurt am Main: Moritz Verlag 2024. 25 Euro
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Janosch: Wondrak für alle Lebenslagen
Postkartenkalender 2025
Ditzingen: Reclam 2024. 17 Euro
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Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Annika reichte ihm die Schale mit Sahne.

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