Friedrich Schiller ermordet? Freund Goethe kann es nicht glauben. Doch als er den aus dem Kassengewölbe des Weimarer Jakobskirchhofes geborgenen Schädel seines kongenialen Partners und Mitklassikers in Händen hält und einen winzigen Einstich an der höchsten Stelle des Schädels, »dort, wo die Knochennähte Schläfen- und Stirnbeine fixierten«, entdeckt, bleibt eigentlich keine andere Erklärung übrig, als dass Friedrich Schillers Tod am 9. Mai 1805 kein natürlicher gewesen sein konnte. Fortan treibt es den alten Freund um. Von Weimar nach Jena und zurück. Von Hofarzt Huschke zu Schillers ehemaligem Diener Georg Rudolph. Von Caroline, der noch lebenden Schwägerin des Freundes zu Johanna Schopenhauer. Und immer wieder zu seiner Schwiegertochter Ottilie und ihren beiden kleinen Söhnen, die er mehr schätzt als Sohn August. Goethe, der Nationaldichter, ist zum Kriminalisten geworden. Und Johannes Wilkes (Jahrgang 1961), Autor zahlreicher Reiseführer, Sachbücher und Kriminalromane, begleitet ihn mit viel Witz und einem munteren Mix aus Vergangenheit und Gegenwart auf seiner Suche nach Schillers Mörder. Von DIETMAR JACOBSEN
Es war ein bisschen eng geworden im Kassengewölbe des Weimarer Jakobskirchhofes. Und so stiegen mehr als 20 Jahre nach Friedrich Schillers Tod am 9. Mai 1805 im März 1826 der Weimarer Bürgermeister Carl Leberecht Schwabe und weitere Honoratioren der Klassikerstadt an der Ilm hinab in die dunkle und modrige Gruft, um letzten Endes festzustellen, dass es nach Lage der Dinge, sprich: der dort durcheinanderliegenden Skelette und Schädel, kaum mehr möglich war, festzustellen welche der sterblichen Überreste zu welchem der einst hier zur letzten Ruhe Gebetteten gehörten.
Die Weimarer Gebeinodyssee
Doch Schwabe gab sich damit nicht zufrieden. In einer dreitägigen Nacht- und Nebelaktion ließ er vier zu absolutem Stillschweigen verpflichtete Getreue nach den Gebeinen Schillers graben. Aber welcher von den 23 Schädeln, die er schließlich in Händen hielt, sollte der des berühmten Verfassers der Räuber sein? Schwabe entschied sich nach Konsultationen mit Menschen, die Schiller zu dessen Lebzeiten nahe gestanden hatten, und Vergleichen der Schädel mit der Totenmaske des Dichters für denjenigen, der den edelsten Eindruck auf ihn machte und allein von seiner Größe her als Gefäß für das Gehirn eines der größten Denker seiner Zeit mehr als geeignet erschien. Wie wir heute wissen, war diese Wahl leider die falsche. Da DNA-Analysen im frühen 19. Jahrhundert aber noch nicht an der Tagesordnung waren, landete der vermeintliche Schädel Schillers im Rahmen eines Festaktes zunächst in der Fürstlichen Bibliothek, später in Goethes Haus am Frauenplan und schließlich zusammen mit den restlichen Gebeinen – die auch nicht diejenigen Schillers waren – in der Weimarer Fürstengruft.
Nun ist er also wieder da. In einem »literarischen Krimi« des 1961 in Dortmund geborenen Johannes Wilkes darf sich Goethe erneut über ihn beugen – »Geheim Gefäß! Orakelsprüche spendend, / Wie bin ich wert, dich in der Hand zu halten?«, heißt es in dem Gedicht Bei Betrachtung von Schillers Schädel –, nur diesmal entdeckt der Freund etwas ihn vollkommen Irritierendes: »Nicht an der Tuberkulose, nicht an seinen ewigen Lungenproblemen war der Freund gestorben. Heimtückisch hatte ihm jemand den Schädel durchstoßen.« Mit einem Werkzeug, dessen tödliche Spur nur dem aufmerksamen Beobachter ins Auge fallen würde, einer Schusterahle oder Ähnlichem, mit hartem Schlag ins Hirn getrieben.
Goethe ermittelt
Schiller also das Opfer eines heimtückischen Mordanschlags? Sofort weiß Goethe: Er muss dem Freund Gerechtigkeit widerfahren lassen, seinen Mörder ermitteln und ihn an den Pranger stellen. Aber wer könnte ein Interesse am Tod eines Mannes gehabt haben, der zu seinen Lebzeiten gefeiert wurde für seine Freiheitsgesänge und den Mut, sich mit seinen Dramen und Gedichten allen Tyrannen dieser Welt entgegenzustellen? Natürlich fällt Goethes erster Verdacht auf den Württemberger Despoten, den Nachfahren jenes Herzogs Karl Eugen, vor dessen Zorn der junge Friedrich Schiller nach der Uraufführung seiner Räuber fliehen musste, wollte er nicht für Jahre auf dem Hohenasperg im Kerker landen.
Ihm wäre durchaus zuzutrauen, einen bezahlten Mörder nach Weimar zu schicken und die alte Familienfehde mit dem Dichter auf grausamste Weise für immer zu beenden. Zumal der unbelehrbare Freiheitsfreund gerade an einem Drama, dem Demetrius, arbeitete, das wie Die Räuber offensichtlich Sprengstoffpotential besaß.
Aber das Motiv für den Mord könnte sich natürlich auch im Privaten verbergen. Und benehmen sich nicht Schillers Schwägerin Caroline von Wolzogen und deren Dienerin und beste Freundin Wilhelmine Schwenke äußerst merkwürdig, als sie Goethe im Laufe seiner Nachforschungen mehrmals im Weimar benachbarten Jena aufsucht?
Da er um die erotischen Verwirrungen weiß, die das Verhältnis Schillers mit den beiden Schwestern Caroline und Charlotte von Lengefeld von Beginn ihrer Bekanntschaft an kennzeichneten, ehe sich der Dichter entschloss, die jüngere der beiden, Charlotte, 1790 zu heiraten, hält Goethe es durchaus für möglich, dass auch ein später Eifersuchtsanfall hinter Schillers Tod stehen könnte. Bestärkt wird er in dieser Ansicht von seiner Schwiegertochter Ottilie, die kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn es um das Sich-Ausmalen drastischer Szenen geht.
Goethe als Talkshow-Gast?
Dass Johannes Wilkes Kommissar Goethe letztlich genau zu dem Ergebnis kommt, das 181 Jahre später, 2008, eine DNA-Analyse hinsichtlich Schillers Schädel ergab, nämlich dass es sich bei dem verehrten Relikt gar nicht um Schillers Schädel handelt, also auch die Mordhypothese fallen gelassen werden kann – diese Erkenntnis ist in dem gewitzt daherkommenden kleinen Roman einem quirligen Brüderpaar vorbehalten, nämlich den Goethe-Enkeln »Wo und Wa« (Wolfgang und Walther). Wie die beiden Burschen das herausgefunden haben? Lesen Sie selbst!
Im Übrigen kann man neben all dem Witz, mit dem der Autor seinen Roman ausgestattet hat, tatsächlich viel über die Weimarer Verhältnisse zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus dem Büchlein lernen. Freilich: Dass Johann Wolfgang von Goethe einen Widerwillen gegen Fernseh-Talkshows hegte, Schiller in VfB-Stuttgart-Bettwäsche schlief, neben Thüringer Rostbratwürsten auch Döner und Hamburger im klassischen Weimar serviert wurden oder leere Bierdosen über das Pflaster der Stadt an der Ilm rollten.
Dies und anderes in den Roman eingestreute Aberwitzige funktioniert mal richtig gut, mal aber auch weniger. Stören tut es jedenfalls kaum, genauso wie die schöne Idee, dass Schiller bis zur Fertigstellung des Goethe-Schiller-Denkmals 1857 allein auf dem Sockel aus badischem Granit vor dem Nationaltheater gestanden hat, allerdings nicht auf dessen Mitte, sondern so auf der Seite, als warte er nur darauf, dass sein alter Kumpel aus ruhmreichen Dichtertagen den freigehaltenen Platz einnehmen würde.
Titelangaben
Johannes Wilkes: Kommissar Goethe: Schillers Schädel
Kassel: Prolibris Verlag 2024
216 Seiten, 13 Euro
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