//

In Aufruhr

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: In Aufruhr

Gehupft wie gesprungen, im Endeffekt bleibt es sich gleich, die feinen Leute werden sich einige Wochen länger über Wasser halten als alle übrigen, sie möchten um Himmels willen nicht sterben, ein andermal gern, doch bitte nicht jetzt, und, vor allem, sie können sich das leisten, verstehst du, darauf laufe es hinaus, das Leben hienieden sortiere sich am Mammon, und die feinen Leute seien Spielernaturen.

Sie klammern, Annika, sie suchen das Licht am Ende des Tunnels, sie greifen nach jedem Strohhalm, sind denn keine Fluchthelfer zur Hand, sie würden Unsummen zahlen, sie gäben ihr letztes Hemd, wo fänden sie Schutz, wo fänden sie Zuflucht vor einem aufgebrachten Planeten.

Nein, es existiere kein Plan B, die Situation sei heikel, Politik habe die Segel gestrichen, der Mensch habe verloren, nun rette sich wer kann.

Sie möchten ihre letzte Frist um jeden Preis verlängern, unsere Milliardäre wollen nicht sterben, nein, ich sagte es, für sie komme das nicht in Frage, sie würden Regionen aufsuchen, die weder von Überflutung bedroht seien noch von Feuersbrünsten, sie seien global vernetzt, sie seien flexibel, für alles sei gesorgt, wo sei das Problem, sie besäßen Immobilien in diversen Regionen, um jeder Seuche ein Schnippchen zu schlagen, doch letztlich werden sie auf Dienste angewiesen sein: Kerosin für ihre Flieger, Nahrung, medizinische Betreuung, sie seien an Luxus gewöhnt.

Das jahrzehntelang marginalisierte gewöhnliche Volk, das Heer einfacher Leute, die Millionen Heimatlosen, sie brächen weg, von heute auf morgen brächen sie weg, hier eine Überflutung, dort ein Erdrutsch, die Not sei unermeßlich, und stürben dahin wie die Fliegen, de facto sei der Mensch eliminiert, Annika, er existiere schon nicht mehr, allein die Milliardäre hielten sich noch, ein allerletztes aufrechtes Geschwader, endlich seien sie unter sich, das ist’s was sie immer gewollt hätten, die Zeit sei reif, der letzte schalte das Licht aus.

Hätten sie nicht noch jedesmal triumphiert, den Sieg errungen sogar über urwüchsige Gewalten – was würden ihnen Feuersbrünste anhaben, was Überflutungen, was Orkane, was Erdbeben, nichts, nein, Mammon herrsche über sämtliche Grenzen hinweg, wie könne es anders sein, sie besäßen doch Zufluchtsorte auf dem Planeten, sie verfügten doch über alle notwendigen Mittel, was sollte ihnen im Wege stehen.

Sie sollten dennoch vorsichtig sein, wandte Annika ein, wie gern schwelge man in einer Illusion, sie träten sonst durchaus nüchtern auf, kühl kalkulierend, abwägend, und sie machten sich etwas vor, oder, denn das Fundament sei ihnen weggebrochen und eine systemrelevante Infrastruktur, die Nahrungsketten, würden einreißen, die Cessna sei wegen fehlenden Treibstoffs nicht einsetzbar, der Nachschub reiße ab, von medizinischem Personal ganz zu schweigen, auf ihre letzten Tage lernten sie das Elend kennen, die Verzweiflung, niemand kommt hier lebend raus, niemand.

Tilman widersprach nicht. Als Herren, sagte er, seien sie auf Knechte angewiesen, das hätten sie nicht bedacht, die Zivilisation basiere auf derartigen Gesellschaftsverträgen und sei jahrhundertelang stabil geblieben, die Herren hätten sich starr und unnachgiebig gezeigt, kaltlächelnd, die Knechte hätten die Knute murrend ertragen.

Ein labiles Gleichgewicht, sagte Annika, griff zu ihrer Tasse und trank einen Schluck Tee. Die Kanne war wie die Tasse durch einen rostroten Drachen geschmückt.

Sie war vernarrt in diesen Drachen, zierlich und anmutig wie jener von Hergé aus dem Blauen Lotus in Shanghai. Einer Schlange, so werde erzählt, wüchsen Füße, sobald sie das Alter von zweihundert Jahren erreiche, und sogar Flügel, so werde erzählt, fledermausartige Flügel, auf diese Weise bilde sich der Drache heraus – geheimnisvolle Geschöpfe existierten unter den Himmeln.

Nicht mehr lange, und sie seien aufgerieben, die Heerscharen der Knechte, stell dir vor, sagte Tilman, unwiederbringlich dahin, innerhalb kürzester Frist dahingerafft durch einen exorbitanten Aufruhr des Planeten, die so aufwendig etablierten Lieferketten gekappt, ein vernichtendes Inferno greife um sich, hitziges Fieber, ein Lidschlag nur – das Anthropozän eben erst ausgerufen und bereits zu Grabe getragen, die digitale Kommunikation eine Blase, geplatzt, künstliche Intelligenz ein Etikettenschwindel, Spaßgesellschaft ein Rausch, ein Budenzauber, ein Zirkus, ein Kinderspielplatz, die Marsbesiedelung eine Wahnidee und unsere Milliardäre Spielernaturen, ihre Droge der Mammon, und indes sie sich gerettet wähnen und jubeln möchten, starren sie schon ins Leere, von aller Welt verlassen, eine Gnadenfrist scheint ihnen vergönnt, haben sie jemals die Abläufe verstanden, nun bibbern sie und zittern, ihr Ende vor Augen, reißen ihre Zivilisation mit in den Abgrund, irreparabel, nein, nichts haben sie kapiert, der Planet ist in Aufruhr.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Showdown in Los Angeles

Nächster Artikel

Vorbei mit der Ruhe

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Erfolg

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Erfolg

Abstoßend, sagte Wette, diese Jagd nach Hochleistungen und die Gier, den anderen zu übertreffen.

Farb lachte. Ruhm und Ehre, sagte er, du wirst allenthalben mit Pokalen belohnt, bei den Balltretern zusätzlich mit maximal Kohle.

Nicht bloß bei den Balltretern, sagte Annika.

Die gibt es neuerdings sogar bei den Frauen, sagte Wette, Champions’ League, da läßt sich reichlich Mammon einsacken.

Zwanglos, natürlich, losgelöst

Kurzprosa | Der Literatur Kalender 2025

»Momente der Freiheit« lautet das Motto des feinen, schön gestalteten Literaturkalenders 2025 der Edition Momente. Von BETTINA GUTIERREZ

Eskalation

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Eskalation

Sie rüsten auf, Farb.

Erinnerst du dich daran, wie es anfing?

Gab es das denn je, Farb: einen Anfang?

Es gibt immer eine rote Linie, die überschritten wird.

Rote Linien erkennt oft nur, wer zurückblickt.

Vielleicht daß man den elektrischen Strom zu nutzen begann.

Früher noch, Farb.

Kulturrevoltion

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kulturrevolution

Er habe nachgedacht, räumte Farb ein, er sei neugierig geworden und habe sich informiert.

Anne schenkte Tee nach, Yin Zhen.

Farb warf einen Blick auf seine Tasse, er war vernarrt in den zierlichen rostroten Drachen, nur den Henkel, der sich im oberen Teil gabelte, fand er unpassend.

Tilman war rückte ungeduldig näher zum Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen. Farb hätte sich über Echnaton informiert? Wikipedia als Türöffner zum alten Ägypten?

Ankommen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ankommen Er sei nicht angekommen im Leben, behauptet Gramner: Wie meint er das? Ist das ein Problem? Was bedeutet es denn, Tilman, daß jemand ankommt im Leben? Du kommst ja im Leben nicht an wie ein ICE, der in den Bahnhof einläuft, oder? Nein, eher nicht. Gramner hat eben das Gefühl, er müßte ankommen im Leben, Susanne. Das vermißt er. Gut möglich.