Vorsicht: Spoiler! Die Handlung des Game-of-the-Year-Anwärters wird fortfolgend in groben Zügen vorweggenommen, um das kontroverse Ende ausreichend beleuchten zu können. CHRISTIAN KANDLIN empfiehlt daher: Erst spielen, dann diskutieren! (»Es lohnt sich, versprochen!«)
Von Beginn an erzählt Clair Obscur: Expedition 33 eine Geschichte von Gegensätzen: Einer gottgleichen Entität, der Malerin, stehen verzweifelte Entdecker, die Expeditionen, gegenüber; zwei ominöse Ziffern auf einem Monolithen bestimmen über Tod und Leben in der Welt von Lumière; entweder sind die Einwohner unter der vorgegebenen Altersgrenze, oder darüber – und entweder finden sie sich mit dieser Entwicklung ab, oder sie ergreifen Militanz. Selbst der Titel Clair Obscur teilt in seiner namensgebenden Kunstform Hell von Dunkel und funktioniert erstrangig über seine Kontraste – zeichnet damit jedoch nur scheinbar ein schwarz-weißes Bild von Gut und Böse.
Je weiter die Geschichte des Spiels voranschreitet, desto häufiger finden sich die Spielenden mit dieser Dualität konfrontiert. Dabei entwickelt sich diese zum Ende des zweiten Akts weg von dem klassischen Schwarz-Weiß-Kontrast und der Leben-Tod-Dualität hin zu einem Gemisch aus Grautönen, bestehend aus nur schwer zu beantwortenden moralischen Fragen. Welchen Wert hat ein autonomes, wenn auch simuliertes Leben? Welche Grenzen sollten Eskapismus als Trauermechanismus auferlegt werden? Und wessen Recht ist es, über eine dieser Fragen zu entscheiden?
Mehr als jeder bisherige Gegensatz in Clair Obscur sah sich die Spielerschaft vor allem aufgrund des Endes in zwei Lager aufgeteilt. Das eine setzt das virtuelle Leben an erster Stelle und simuliert eine Wunschexistenz der von Narben gezeichneten Protagonistin Alicia. Mit ihren schöpferischen Fähigkeiten macht sie die Ereignisse der Geschichte rückgängig und sorgt durch eine alternative Zeitlinie für eine scheinbare Utopie – auch wenn schnell deutlich wird, dass sie einzelne Individuen hierfür auch zu ihrem Glück zwingen muss. Im Gegenzug für das Überleben von Lumière fristet die Protagonistin eine gespaltene Existenz: Ihr virtuelles Ich lebt in der von ihr geschaffenen Welt in dem von ihr geschaffenen Körper, während ihr »reales« Ich vor der Leinwand die schädigenden Auswirkungen der Simulation erträgt. Ein Leben für das einer ganzen Welt.
Dem gegenübergestellt ist die Entscheidung des männlichen Protagonisten Verso. Als Replikat seiner verstorbenen Vorlage ist er sich seiner artifiziellen Existenz bewusst und gibt dieses – und das der gesamten Welt innerhalb der Leinwand – auf, um die Familie in der »Realität« (sofern diese in Clair Obscur je klar definiert wird) zu retten. Wird die Leinwand zerstört, können Trauer- und Traumabewältigung nicht länger in der Form von Eskapismus in einem Kindheitswerk des betrauerten Sohnes stattfinden; die Familie kommt der Möglichkeit, mit dem Verlust abzuschließen, näher – und bleibt vor allem am Leben.
Während bei dem einen Ende die realen, gottgleichen Figuren der Dessendre-Familie über die Köpfe der Lumièraner hinweg entscheidet, ist bei dem anderen genau das Gegenteil der Fall. Verso ergreift in seinem letzten Akt die Autonomie und stellt sich den Grenzen seiner Existenz. Als realitätsnahe, jedoch vor allem subjektive, Nachbildung des echten Versos akzeptiert er die fehlerhafte Annahme, er könne an seiner Stelle die Lücke in der Familie füllen und beobachtet den Zerfall dieser Aufgrund des tragischen Trugschlusses. Gleichzeitig raubt Verso der einzig verbliebenen »realen« Figur in der Leinwand Maelle besagte Autonomie: Er verstößt die Künstlerin aus dem Werk ihres Bruders und beendet in der Folge die Magie des Gemäldes – bislang aufrechterhalten allein durch ein Überbleibsel der Seele des verstorbenen Verso.
Das Schicksal einer Familie gegen das einer ganzen Welt, die Auflehnung des Werkes gegen den Künstler: Sind das die Dualitäten, um die es also geht? Auch; bei der Entscheidung über das Schicksal der Stadt und damit auch von Alicia/Maelle wird jedoch eben jener Fakt leicht übersehen, der diesen Streit erst ermöglicht. Die Leinwand, die unter der Dessendre-Familie zum Kriegsschauplatz verkommt, wird von der Essenz des ursprünglichen Künstlers am Leben gehalten. In einem Dialog am Ende der Handlung zeigt sich, dass diese Essenz – dargestellt in der Form eines kleinen, fragmentierten Jungen – müde ist. Auf Wunsch der überlebenden Familienmitglieder hin wird diese Essenz zur Aufrechterhaltung des Gemäldes und der darin liegenden Welt gezwungen. Argumente, die Aline und Maelle liefern, um das Vermächtnis von Verso in der Form der Leinwand zu beschützen, stehen dadurch in fragwürdigem Licht. Gleichzeitig ist Renoirs Ansicht, das Werk zu vernichten, aufgrund der Essenz, die dieses innehält, fast schon zu radikal. Einen alternativen Mittelweg, indem das Gemälde ohne das Dasein der Familie existiert, geben Entwickler Sandfall Interactive den Spielenden nicht zur Hand.
Und doch existiert er. In einem Brief an ihren Bruder stellt die gemalte Version von Alicia die Gegensätzlichkeit der beiden Eltern, deren Krieg bereits seit 67 diegetischen Jahren anhält, dar: »Sie, die das Leben malt, und er den Tod.« Beide Wege sind unmittelbar an die Familie Dessendre geknüpft: Eine Koexistenz ist für sie undenkbar, wer zu viel Zeit in einer Leinwand verbringt, stirbt – und einen anderen Weg als die Zerstörung des Kunstwerks zur Rettung der trauernden Mutter Aline sieht Vater Renoir nicht. Die virtuelle Schöpfung Alicia beklagt, im Kreuzfeuer gefangen zu sein und hält ihren Bruder dazu an, einen anderen, eigenen Weg zu finden: »Was wirst du malen?« Letztendlich scheitert dieser Weg jedoch an den Charakteristiken Versos und der Tatsache, dass er sich selbst als Stellvertreter des Problems versteht. Ultimativ gelingt ihm hierbei nicht die vollkommene Autonomie des Kunstwerks, das Replikat eines freien Sohnes verfällt damit der Dualität der Eltern.
Dabei scheint eine Lösung zum Greifen nahe: Alicia/Maelle verbringt nur eine kurze Zeit in der Welt – oder verabschiedet sich von dieser, ohne die Leinwand im nachhinein zu beseitigen. Während die Bewohner von Lumière sich von den Geschehnissen erholen und ihr Leben frei vom Joch der Malerin fortsetzen können, bietet sich der Familie Dessendre in der Außenwelt die Möglichkeit der Trauerbewältigung und Akzeptanz. Letzten Endes ist es folglich die Sehnsucht nach der Vergangenheit, der Utopie in Lumière – und die Verweigerung jeglicher Realität, die nicht nur zu dem Krieg in dem ehemaligen Kindergemälde, sondern unweigerlich auch zum Leid einer Familie und dadurch einer ganzen Welt führen. Das eine richtige Ende, wie es von manch einem Rezipienten idealisiert wird, kann es somit nicht geben.
| CHRISTIAN KANDLIN