Fremd in der Heimat

Roman | Andreas Maier: Die Straße

»Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.« Diese Verse von Wilhelm Müller, die in Franz Schuberts Winterreise eingeflossen sind, beschreiben treffend die inneren Befindlichkeiten des jungen Protagonisten in Andreas Maiers neuem Roman Die Straße. Von PETER MOHR

strDieser pubertierende Jüngling lebt seltsam zurückgezogen und pflegt fast nur Kontakte zu anderen »Außenseitern«. Der neue Roman ist nach Das Zimmer (2010) und Das Haus (2011) nun der dritte Teil von Andreas Maiers hoch ambitioniertem, stark autobiografischen Wetterau-Mammutepos’, das unter dem Arbeitstitel »Ortsumgehung« auf insgesamt elf Bände geplant ist.

Maier ist in der Wetterau, in diesem zwischen Frankfurt und Gießen gelegenen Landstrich geboren und aufgewachsen, für ihn ein ähnlich wichtiger und literarisch inspirierender Ort wie es Danzig für Günter Grass war. Wir befinden uns in den späten 1970er Jahren in der mittelhessischen Provinz. Hier (in und um Friedberg) tickt die Uhr noch langsamer, hier scheint die kleinbürgerliche Engstirnigkeit noch ausgeprägter zu sein, und alles wirkt wie mit einer historischen Patina überzogen. Der junge Andreas verspürt eine starke Abneigung gegen fremde Häuser, gegen deren Einrichtungen, gegen all das Interieur, das Behaglichkeit verströmen soll. Dieses omnipräsente Gefühl der Fremdheit löst gar eine starke körperliche Aversion gegen all die Nachbarn im Friedberger Mühlweg aus.

Andreas Maier liest am Erlanger Poetenfest 2012 (Foto: Hubert Holzmann)
Andreas Maier liest am Erlanger Poetenfest 2012 (Foto: Hubert Holzmann)

Die wenigen Freunde, die Andreas hatte, kamen zumeist aus sogenannten »zerrütteten Familien«, waren soziale Problemfälle, die von den Nachbarn gemieden und argwöhnisch beäugt wurden: der übergewichtige, später kiffende amerikanische Gastschüler John Boardman (»Er war so etwas wie das Urbild des Schmerzes in meinem Leben.«), das Fußballtalent H, das zum exzessiven Arno-Schmidt-Leser wurde und danach »sehr eigenartige Geschichten« verfasste, oder der alte Adomeit, der sich »Praline« und »St. Pauli Nachrichten« kaufte und im Umgang mit seiner zur spießigen Prüderie neigenden Nachbarschaft daraus auch kein Geheimnis machte.

Dabei war in der Schule und auch in den Familien Sex ein absolutes Tabuthema, zumindest das Sprechen darüber galt als unanständig. Nicht klagend, sondern rein deskriptiv aus der Sicht des naiven Jungen setzt sich der 46-jährige Andreas Maier mit der Grauzone zwischen familiärer Zuneigung und sexuellen Übergriffen auseinander. »Ob ich selbst angefasst oder gestreichelt wurde, kann ich nicht sagen.«

Hin- und hergerissen fühlt sich der Ich-Erzähler, eine schmerzhafte Ohnmacht des Unwissenden macht sich in ihm breit, als seine ältere Schwester und ihre Freundinnen ihn nötigten, sich zu entkleiden: »Die Mädchen bestanden ganz offenbar nur aus dem Wunsch der Einführung und ihren Löchern, sie hatten an jedem anderen Rest der Welt das Interesse verloren.« Später kam die »Bravo« als ebenso beliebtes wie ungeeignetes Aufklärungsmedium hinzu und als eine Art »Wörterbuch des Verbotenen.«

Andreas Maiers stark autobiografischer Roman setzt zwar auf einen hohen  Wiedererkennungswert der 1970er Jahre Kindheit in der Provinz, aber seine Sprache bleibt extrem distanziert und kühl, ist beinahe von naturwissenschaftlicher Nüchternheit. Er hat ein stimmiges Faktengerüst konstruiert, verweigert aber jegliche Emotionen. Maier bedient sich eines schier unerschöpflichen Reservoirs an alltagspsychologischen Weisheiten, skizziert trefflich das Entstehen kleinbürgerlicher Vorurteile und die durch Unkenntnis und Ignoranz ausgelösten Mechanismen ihrer rasanten Multiplizierung.

Regelrechte panische Abwehrreflexe werden durch reale oder imaginierte Feindbilder wie Exhibitionisten, Päderasten und farbige GIs ausgelöst. »Wenn ein schwarzer Mann auf ein kleines Mädchen trifft, folgt daraus der Tod des kleinen Mädchens«, heißt es lapidar.

Es rekrutiert sich in der Nachbarschaft eine Bürgerwehr aus feigen Spießern, die ihren Familien und den Nachbarn demonstrieren wollen, was sie (jeder für sich) für tolle Kerle sind. Maiers Beschreibungen der Kleinbürgerseele sind präzis und authentisch, und dennoch wirken sie bei der heutigen Lektüre beinahe komödiantisch-grotesk.

Maiers »Wetterau«-Romane sind alles andere als folkloristisch-nostalgische Heimatprosa, hier wird keineswegs schwärmerisch verklärt oder eine Hymne auf die gute alte Zeit angestimmt. Im Gegenteil: Die Lektüre bereitet Schmerzen, weil uns der Autor so intensiv an den pubertären Irrungen und Wirrungen des Protagonisten teilhaben lässt, das wir seine Unsicherheit, seine Schamesröte und sein Herzklopfen geradezu körperlich nachempfinden können. Dieser Roman reicht weit über den liebevoll beschriebenen Landstrich hinaus. Die Wetterau ist überall.

| PETER MOHR

Titelangaben:
Andreas Maier: Die Straße
Berlin: Suhrkamp Verlag 2013
194 Seiten. 17,95 Euro

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