Es muss nicht immer Mittelerde sein

Comic | J. Williamson, A. Bressan: Birthright

Dass Fantasy mehr zu bieten hat als Elfen, Zwerge, Trolle, Drachen und schwertschwingende Barbaren ist längst kein Geheimnis mehr. Trotzdem ist es nicht immer leicht, Werke zu finden, die dem im letzten Jahrzehnt so stark beackerten Feld Früchte abtrotzen, die eine neue Geschmacksrichtung haben. BORIS KUNZ hat sich ein paar Comics angesehen, die diesen Versuch unternehmen.

Birthright

birthright1_cvr_rgb-36a9abaeSpätestens seit Alice durch das Kaninchenloch ins Wunderland geriet, ist es ein altbekanntes Motiv, Fantasywelten dadurch zu erzählen, dass diese durch ein magisches Portal von einem Kind unserer Welt betreten werden – welches sich dann meistens auch noch trotz junger Jahre als auserwählter Heilsbringer herausstellt, den das Schicksal dazu ausersehen hat, die fremde Welt von einem bösartigen Tyrannen zu befreien. Die wenigsten Fantasyerzählungen schlagen aus diesem Parallelwelten-Konzept wirklich viel Potential. Stattdessen benutzen sie diese Volte eigentlich nur, um ihre fantastischen Welten dem Leser durch die Augen eines irdischen Protagonisten näher zu bringen. So wird typischerweise erzählt, dass in diesen anderen Welten die Zeit anders vergeht als auf der Erde, sodass ein Kind am Nachmittag in eine fremde Welt verschwinden und doch nach einem Monate währenden Abenteuer wieder zum Abendessen daheim sein kann, ohne dass die Eltern etwas spitzkriegen.

Wenn man die Prämisse der US-Comicserie ›Birthright‹ zum ersten Mal hört, wundert es einen, dass vorher noch niemand auf den Gedanken gekommen ist, das Ganze einmal anders herum zu erzählen, nämlich vom Blickwinkel der zurückgebliebenen Familie aus: Als ihr Sohn Mikey beim Ballspielen in einem kleinen Wäldchen verschwindet, ist das eine Katastrophe für seine Eltern und vor allem für seinen älteren Bruder Brennan, der das spurlose Verschwinden des kleinen Bruders nicht wahrhaben will. Der Vater, von den Behörden und seiner eigenen Ehefrau aufgrund fehlender anderer Spuren schließlich als Mörder von Mikey verdächtigt, verfällt dem Alkohol. Seine Frau trennt sich von ihm und beginnt eine Affäre mit dem ermittelnden Polizisten. Doch ein Jahr später wird tatsächlich jemand gefunden, der Mikey sein könnte. Allerdings ist das kein kleiner Junge mehr, sondern ein bärtiger Hüne mit Schultern wie ein Schrank, in einem martialischen Outfit und bis an die Zähne bewaffnet mit Schwertern, Säbeln, Keulen und Streitäxten. Wenn es wahr ist, was dieser erzählt, dann ist Mikey in einer Parallelwelt herangewachsen, wo er zu einem der größten Krieger aller Zeiten ausgebildet wurde und dem es schließlich gelungen ist, das Land Terrenos von dem finsteren Gottkönig Lore zu befreien. Erst nach diesem hart erkauften Sieg konnte er in unsere Welt zurückkehren …

So beginnt ›Birthright‹ mit einer griffigen und coolen Prämisse, die das Genre zwar nicht direkt auf den Kopf stellt, ihm aber doch ein paar ungewöhnliche Yoga-Verrenkungen abverlangt. Denn Mikeys Mission ist noch nicht beendet: Auch in unserer Welt gibt es Agenten des bösen Gottkönigs, die vernichtet werden müssen. Doch weil er sich nach so langer Zeit alleine in dieser Welt nicht mehr zurechtfindet, braucht Mikey Hilfe. Brennan und sein Vater müssen ihn begleiten. Doch während Mikeys Mission zu einem immer brutaleren Feldzug ausartet will seine Mutter noch immer nicht daran glauben, dass der Heimgekehrte ihr Sohn ist. So bleibt sie auf der Seite der Ermittler, die den Conan-Verschnitt erst einmal wieder in Untersuchungshaft sperren möchten. Gleichzeitig öffnen sich die Portale aus Terrenos erneut, und neue Mitspieler betreten den Plan.

Im Geist und im Tempo moderner Serien treibt der Autor Joshua Williamson die Story flott voran, erzählt parallel in Rückblenden das Schicksal des kleinen Mikey in Terrenos und hält für den Leser immer wieder überraschende Wendungen parat. Die Zeichnungen sind auf dem Niveau eindrucksvoller Superheldenmärchen, teilweise erfreulich detailverliebt, und fahren mit einer ganzen Menge Kreaturen auf, bei denen die visuelle Patenschaft der Filme von Peter Jackson und Guillermo del Toro nicht zu leugnen ist. Schade ist, dass die Qualität der szenischen Ausgestaltung leider zuweilen hinter dem Niveau zurückbleibt, das der Plot an Einfallsreichtum in seinen Storywendungen an den Tag legt. Die Actionsequenzen beeindrucken eher durch das Figurendesign und weniger durch besonderen Einfallsreichtum in Choreographie und Ablauf. Gerade in den Szenen, in denen mystisches Fantasymärchen auf diesseitige Familienkatastrophe trifft und der Kampf gegen düstere Hexerei gleichzeitig Auslöser für Beziehungskrach zwischen den Eltern des Helden ist, hätte der Plot viel Potenzial für schrägen Humor und flotten Dialogwitz gehabt – das Williamson aber leider verschenkt. Vielleicht wollte er es aber auch gar nicht nutzen: ›Birthright‹ ist schon eine ziemlich brutale und düstere Kiste, also eher für die Fantasyleser, die nicht mehr mit großen Kinderaugen durch fremde Welten taumeln wollen, sondern die diebischen Spaß an Zerstörung, Blut und Dekonstruktion von Mythen haben. Diese werden auf hohem Niveau bedient, auch wenn man deutlich sagen muss, dass da noch Raum nach oben wäre.

Nonplayer

nonplayer1Eine weitere beliebte Variante der Parallelweltenerzählung ist natürlich die Kreuzung von Fantasy und Science-Fiction, indem man von einer Zukunft erzählt, in der Computerspiele und virtuelle Realitäten ein solches Maß an Realismus erreicht haben, dass die Figuren in eine zweite, fantastische Wirklichkeit eintauchen können. Beispielhaft durchexerziert wurde das in Tad Williams‘ großartigem Romanzyklus ›Otherland‹ – dem ›Herr der Ringe‹ des Cyberpunk. In dieser Tradition steht das sensationelle Werk „Nonplayer “ des Newcomers Nate Simpson. Eigentlich ist dieser ein Gamedesigner, der nebenbei in seiner Freizeit an seinem auf drei Bände angelegten Comicdebut arbeitet.

Schon auf dem Cover fällt einem das großartige Artwork ins Auge: Aufwendige Zeichnungen mit klaren Linien und fantastischer Detailverliebtheit, die im großen Albumformat wunderbar wirken. Der Amerikaner Nate Simpson scheint seine Vorbilder eindeutig im europäischen Comic zu haben, in erster Linie beim großen Moebius, aber auch bei der Ligne Claire – und dem Manga. All das fließt zu einer ganz eigenen Handschrift zusammen, die für ein Debutwerk ganz erstaunlich ist.

Die Story, gleichermaßen originell und von einem augenzwinkernden Humor durchsetzt, entfaltet sich nur langsam und entwickelt ihre Spannung (›Otherland‹ nicht unähnlich) aus dem Rätsel, wie die verschiedenen Handlungsstränge und -ebenen wohl ineinander finden werden: In dem Fantasyspiel Jarvath findet ein Mordanschlag auf eine gut bewachte Königin statt, der großen Unmut beim Herrscher dieses Reiches auslöst.

Die geschickte junge Kriegerin, die den Anschlag verübt hat, arbeitet im richtigen Leben (dem »Meat-Space«) bei einem Lieferservice in einer modernen Großstadt, in der schwere Arbeiten wie das Verladen von Containern aber auch die Müllabfuhr von Robotern übernommen werden. Einer dieser Roboter ist offenbar von einem Computervirus geentert worden: Er hat ein Eigenleben entwickelt und in einer Großmarkthalle für Meeresfrüchte Geiseln genommen. Während er auf Latein seine Forderungen stellt, hält er die Einsatzkräfte der Polizei durch geschickte Würfe mit toten Sägefischen auf Distanz. In dieser Szene lernen wir einen Agenten einer Behörde namens National Artificial Intelligence Bureau kennen: Das NAIB kümmert sich um künstliche Intelligenzen, die ein Eigenleben entwickelt haben.

Wie Simpson diese Handlungsstränge zu einem Ganzen zusammenführen wird, kann man nach der Lektüre des ersten Albums nur erahnen – aber wissen will man es unbedingt. Schließlich hat man selten einen Comic in den Händen, in dem sich Zeichnungen, Storytelling und Dialoge auf einem so hohen Niveau befinden: Es macht auf jeder einzelnen Seite Spaß zu verweilen und in die originellen Welten von ›Nonplayer‹ einzutauchen. Ein absoluter Tipp für alle Genre-Fans.

Die Schöne und das Biest

schoene_und_das_biest_coverEin friedliches kleines Hafenstädtchen in einer Zeit, die das 17. Jahrhundert sein könnte, wird von einem düsteren Schrecken heimgesucht: Ein fliegendes Piratenschiff von fantastischen Ausmaßen taucht über ihr auf. Seine untote Besatzung macht sich in den Gassen auf die Jagd nach Menschen. Die mit besonders verkommenen, schwarzen und sündigen Seelen interessieren sie dabei am meisten. Denn der Kapitän des Schiffes, der einmal ein Seemann war, aber jetzt eine martialische Schreckensgestalt ist, die nur noch »Tier« oder »Biest« genannt wird, hat einen Pakt mit einem Hexer geschlossen. Im Gegenzug für die Seelen hält der Hexer die Geliebte des Biests am Leben – wenn auch gefangen in einer goldenen Blase im Herzen eines mächtigen Gewächses aus Dornenranken, das den Palast des Biests überwuchert hat.

Bella, die jüngste von drei Schwestern, eine eigenwillige Kreuzung aus Aschenputtel und Katniss Everdeen, versehen mit einer gehörigen Portion naiver Unschuld, stellt sich den Seelenfängern in den Weg. Um das Leben ihrer Schwestern und ihres armen Vaters zu schonen, geht sie freiwillig mit auf das Schiff der Bestie – die sich auf den Handel einlässt, weil Bella der verwunschenen Geliebten Diana zum Verwechseln ähnlich ist. Doch Liam, der stattliche Sohn des Bürgermeisters und ein Sandkastenfreund von Bella, schleicht sich ebenfalls heimlich an Bord des Schiffes – um Bella zu befreien und um den Tod seiner Mutter zu rächen, für den er das Biest verantwortlich macht. Während nun Bella vermittels seines Tagebuchs die menschliche Seite des Biests zu schätzen lernt und sich langsam aber sicher auf dessen Seite schlägt, lässt sich Liam von dem Hexer, der eigentlich der Kern allen Übels ist, für dessen Zwecke manipulieren … Und so entspinnt sich in einem gigantischen Palast über den Wolken eine Ménage-à-cinq, die auf einen dramatischen Höhepunkt zusteuert.

Autor Maxe L´Hermenier und das Zeichnergespann Looky und Dem (allesamt keine Debutanten aber noch längst keine alten Hasen) mischen die bekannte Geschichte mit inhaltlichen und visuellen Elementen düsterer Fantasy. Das ist auch derzeit im Kino ein beliebtes Rezept, um Fantasy zu kreieren, man denke an ›Jack and the Giants‹, ›Maleficent‹ oder ›Snow White and the Huntsman‹. Französisches Volksmärchen trifft auf ›Peter Pan‹ und ›Fluch der Karibik‹. Diese Mischung ist im ersten Teil (der Band ist als Splitter Double erschienen) auch recht vielversprechend: Die Bilder sehen toll aus, beeindruckende Kulissen, eindringliche Seitengestaltung und opulente Ausstattung. Das Ergebnis: Martialische Fantasy mit einem leichten Hauch von Disney. Wenn es lustig wird, nehmen die Züge der Figuren eine simplere, stark vom Manga inspirierte Ausdrucksform an. Und auch, wenn der Humor nicht immer zündet: Die düstere Romanze hat dank dem Verhältnis von Liam und Bella zudem einen Touch von Romantic Comedy.

Leider gerät die flott erzählte Geschichte im zweiten Teil, der fast komplett von einem langgezogenen Showdown eingenommen wird, ins Stocken. Nun verwandelt sich das lockere Schauermärchen in ein düsteres Melodram, voller bildlicher Metaphern für Schuld und Erlösung. Nicht nur die bombastischen Szenerien erinnern in ihrem Pomp an eine Oper oder ein Musical, sondern auch die Tatsache, dass die Erzählung letztlich alle Motive der Handelnden auf zwei grundlegende Emotionen zurückführt: Liebe und Rachedurst.

Doch so grundlegend diese Gefühle sind: Die Bilder, die L’Hermenier und die Zeichner finden, um sie dem Leser nahezubringen, sind nicht greifbar. Magische Spiegel und Zeitblasen, physische Transformationen, die sich jedoch nach unergründlichen Regeln auch wieder rückgängig machen lassen, all das sieht gut aus, bleibt aber trotzdem seltsam abstrakt. Ein Musical aber könnte hier wenigstens auf die musikalische Ebene setzen, die diesem Comic fehlt. Damit fehlt aber auch der emotionale Zugang zur Geschichte, der für diese barocke Emo-Fantasy entscheidend gewesen wäre. So bleibt letztendlich ein Album, mit dem die Hardcore-Fantasy-Fraktion zwar gut bedient wird, in dem die märchenhafte Poesie, die möglich gewesen wäre, leider auf der Strecke bleibt.

| BORIS KUNZ

Titelangaben

Joshua Williamson (Text), Andrei Bressan (Zeichnungen): Birthright Band 1: Heimkehr
(Birthright Volume 1: Homecoming) Aus dem Amerikanischen von Franz He
Ludwigsburg: Cross Cult 2015
128 Seiten, 20,00 Euro
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Nate Simpson: Nonplayer
(Nonplayer) Aus dem Amerikanischen von Bernd Kronsbein
Bielefeld: Splitter Verlag 2015
64 Seiten, 15,80 Euro
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Maxe L’Hermenier (Text) Looky & Dem (Zeichnungen): Die Schöne und das Biest
(La Belle et la Bête) Aus dem Französischen von Resel Rebiersch
Bielefeld: Splitter Verlag 2015
96 Seiten, 19,80 Euro
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Reinschauen
| Webauftritt von Nate Simpson

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